Ein harter Winter – und dann?

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Für die Erkenntnis, dass den Menschen in Deutschland ein teurer und womöglich kalter Winter bevorsteht, braucht es längst keine Erläuterungen von Wirtschaftsexperten oder Politikern mehr: Energierechnungen, Tankquittungen oder der Einkauf im Supermarkt führen dies mehr als deutlich vor Augen. Wohlstandsverluste sind in diesem Konjunktur- und Inflationsumfeld kaum zu vermeiden. Ich erwarte für das laufende Jahr eine Inflationsrate in Deutschland von gut 8 Prozent. Aller Voraussicht nach geringer ausfallen als 2021 wird hingegen das Konjunkturwachstum. Die Prognosen für das kommende Jahr sehen derzeit kaum besser aus. Während die Inflationsrate 2023 hierzulande nur geringfügig niedriger ausfallen dürfte als 2022, erwarte ich für die deutschen Wirtschaft ein Nullwachstum. Müssen wir uns also nicht nur auf einen harten Winter, sondern auch auf ein hartes Gesamtjahr 2023 einstellen?

Ziemlich sicher scheint aktuell, dass es über den Jahreswechsel zu einer Rezession in Deutschland kommen wird. Allerdings dürfte der erwartete wirtschaftliche Abschwung nicht so stark ausfallen wie in vorangegangenen Krisen, etwa der großen Finanzkrise 2008 oder zu Beginn der Corona-Pandemie 2020. Damals schrumpfte die deutsche Wirtschaft um 5,7 Prozent beziehungsweise 3,7 Prozent.

Deutschland vor einer Rezession: herausfordernde Monate voraus – aber Hoffnung auf Besserung im kommenden Jahr.

Vieles dürfte davon abhängen, wie wir durch den Winter kommen, sprich, wie gut die Gasspeicher zum Ende der Heizperiode noch gefüllt sein werden. In dieser Hinsicht spielt das Wetter eine entscheidende Rolle – und das lässt sich weder beeinflussen noch langfristig vorhersagen. Zwar ist ein Ende des Lieferstopps seitens Russlands auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Einen Hoffnungsschimmer beim Thema Gas gibt es allerdings. Denn noch in diesem Jahr werden nach aktuellem Stand in Wilhelmshaven und Brunsbüttel die beiden ersten Terminals für Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas – LNG) in Deutschland betriebsbereit sein. Für das Jahr 2023 ist die Inbetriebnahme von drei weiteren Anlandestationen geplant.1 Geht es nach Bundeskanzler Olaf Scholz soll über diese LNG-Terminals und zusätzliche Pipeline-Lieferungen etwa aus Norwegen und den Niederlanden der deutsche Gasbedarf bis Ende des kommenden Jahres vollständig gedeckt werden können.2 Das würde Planungssicherheit für Haushalte und Unternehmen schaffen – eine wichtige Voraussetzung für mehr Investitionen und Konsum und damit für eine wirtschaftliche Erholung.

Milde Rezession und einige positive Signale

Wann und in welchem Maße diese Erholung einsetzen könnte, bleibt abzuwarten. Aktuell rechne ich mit einer vergleichsweise milden und kurzen Rezessionsphase in Deutschland, die nicht über das erste Quartal 2023 hinaus andauern sollte. Positive Signale kommen beispielsweise vom Welthandel, der trotz andauernder Lieferengpässe im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit deutlich zugelegt hat. Zudem bewegen sich die aktuellen Wachstumsprognosen des globalen Warenaustauschs für dieses und das kommende Jahr über den durchschnittlichen Zuwachsraten der vergangenen zehn Jahre.3

Ein florierender Welthandel kann nicht nur das Wachstum der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft treiben, sondern über wieder funktionstüchtigere globale Lieferketten auch den Inflationsdruck abschwächen. Das Exportvolumen in Nicht-EU-Staaten etwa ist im August 2022 um 17,6 Prozent zum Vorjahresmonat gestiegen. Zwar könnten die weltweit hohe Inflation, steigende Zinsen und eine Verschlechterung der finanziellen Rahmenbedingungen in den kommenden Monaten zu einer Abschwächung der Nachfrage führen. Allerdings sind die Auftragsbücher vieler Unternehmen nach wie vor voll. Hinzu kommt, dass sie insgesamt über eine geringe Schuldenquote und hohe Liquiditätsbestände verfügen und zumindest für eine gewisse Zeit vergleichsweise resilient gegenüber einem gesamtwirtschaftlichen Abschwung sein dürften. Zumal viele deutsche Unternehmen zu den Weltmarktführern in ihren Bereichen zählen, was es ihnen erleichtern sollte, Kostensteigerungen an ihre Kunden weiterzugeben.

Hohe Inflation bleibt Hauptherausforderung

Was gut für die Unternehmen ist, schafft auf der anderen Seite Probleme mit Blick auf die Inflation. Denn wenn steigende Kosten weitergegeben werden, führt das unweigerlich zu steigenden Verbraucherpreisen. Ein Dilemma, das durch die jüngst verabschiedeten Fiskalpakete der Bundesregierung noch verstärkt werden könnte. Zweifelsohne braucht es Unterstützungen für die Haushalte, die vor allem durch die stark gestiegenen Energiepreise in Nöte geraten könnten. Eine Förderung nach dem Gießkannenprinzip schafft jedoch zusätzliche Inflationsimpulse. Denn grundsätzlich kann die Inflation nur dann sinken, wenn die gesamtwirtschaftliche Nachfrage abnimmt. Umso wichtiger ist in dieser Situation ein klares Bekenntnis der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Inflationsbekämpfung – selbst unter Inkaufnahme negativer Auswirkungen auf die Wirtschaft. Ich rechne damit, dass die EZB bis Ende dieses Jahres bereits einen Gutteil ihres Zinserhöhungspfades beschritten hat. Das könnte zum Jahresstart 2023 für mehr Klarheit unter den Marktteilnehmern sorgen und die Inflationserwartungen zumindest in Grenzen halten.

Weniger Ungewissheiten, mehr Investmentoptionen

Sollte der Spagat zwischen geldpolitischer Inflationsbekämpfung, fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen und einer Neuaufstellung der Gasversorgung gelingen, könnte sich in Deutschland im Jahresverlauf 2023 eine allmähliche konjunkturelle Erholung einstellen – bei zugegebenermaßen weiterhin erhöhten Inflationsraten. Der bedeutende Unterschied zu heute läge in reduzierten Ungewissheiten. Das wiederum sollte sich dann positiv auch auf die Kapitalmärkte auswirken: Günstige Bewertungen und ein absehbares Ende von Zinserhöhungen könnten Techwerte wieder stärker in den Fokus rücken, während preiswerte Zykliker von einem konjunkturellen Aufwärtstrend profitieren dürften. Hinzu kämen Aktien aus den Bereichen, die unabhängig von kurzfristigen wirtschaftlichen Schwankungen unsere Zukunft maßgeblich gestalten werden, beispielsweise Digitalisierung, künstliche Intelligenz oder erneuerbare Energien.

Quellen:

1 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/fluessigerdgas-lng-terminals-101.html
2 https://www.n-tv.de/ticker/Scholz-versichert-dass-Deutschland-Ende-2023-ueber-genug-LNG-Terminals-verfuegt-article23585413.html
3 https://www.dhl.com/global-en/delivered/globalization/dhl-trade-growth-atlas.html
Alle Daten abgerufen am 23.09.22 um 14 Uhr

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Redaktionsschluss: 04. Oktober 2022, 15 Uhr