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Aktien, Volkswirtschaft/Geldpolitik – 18.07.22
Seit dem 11. Juli fließt durch eine der wichtigsten Pipelines Europas kein Erdgas aus Russland mehr: Aufgrund turnusmäßiger Wartungsarbeiten wurde Nord Stream 1 – durch die in den vergangenen Jahren zeitweise rund 10 Prozent des gesamten Gasbedarfs Europas strömten – für zehn Tage vom Netz genommen. Ob der Betrieb der im vorpommerschen Greifswald endenden Gasleitung wie eigentlich geplant ab dem 21. Juli wieder aufgenommen wird und wenn ja in welchem Umfang, ist fraglich. Schon vor der aktuellen Abschaltung hatte Russland im Nachgang des Angriffs auf die Ukraine und der folgenden Sanktionen der europäischen Staaten das Gasvolumen auf 40 Prozent der normalen Menge gesenkt.
Die unsichere Situation am Gasmarkt stellt für die europäische Wirtschaft derzeit das größte Konjunkturrisiko dar. Aktuell rechnet die Deutsche Bank noch mit einem Wirtschaftswachstum in der Eurozone von 2,9 Prozent in diesem und 1,8 Prozent im kommenden Jahr. Sollte die Gaskrise eskalieren – etwa in Form eines Lieferstopps aus Russland – könnte jedoch eine Rezession drohen. Denn neben den privaten Haushalten (40 Prozent) ist die Industrie (35 Prozent) noch vor der Energieerzeugung (25 Prozent) der größte Gasverbraucher in Europa. Ein Ausfall der russischen Gasimporte würde die Wirtschaft in Europa entsprechend hart treffen.
Zumal die Gasspeicher bislang nicht ausreichend gefüllt sind, um ausbleibende russische Importe zu kompensieren. In Deutschland zum Beispiel liegt der durchschnittliche Füllstand aller Speicher derzeit bei rund 65 Prozent. Von der Bundesregierung angepeilt sind jedoch 80 Prozent bis Oktober und sogar 90 Prozent bis November. Für die gesamte Europäische Union sieht der kurz nach Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs vorgestellte REPowerEU-Plan sogar schon einen Füllstand von 90 Prozent bis Oktober vor – aktuell sind es gerade einmal 61 Prozent.
Diese Ziele dürften ohne die Wiederinbetriebnahme von Nord Stream 1 kaum zu erreichen sein. Zwar füllen sich die europäischen Speicher trotz der Pipelineabschaltung aktuell weiter auf, allerdings mit deutlich gebremster Geschwindigkeit. Gründe dafür liegen auch in den verringerten Gasflüssen durch andere russisch-deutsche Pipelines wie etwa Jamal, die im brandenburgischen Mallnow endet. Hinzu kommen die bereits eingestellten russischen Gaslieferungen an Polen und Bulgarien sowie der nach einem Brand wohl noch bis September andauernde Ausfall des wichtigen US-Flüssiggas-Produktionsstandorts Freeport in Texas.
Im Fokus der europäischen Gaskrise steht Deutschland. Zum einen ist die größte Volkswirtschaft Europas eines der wichtigsten Gastransitländer des Kontinents und damit maßgeblich verantwortlich für die allgemeine Gasversorgung. Rund ein Drittel der deutschen Gasimporte wurde in den vergangenen Jahren in andere Länder exportiert. Die Bundesregierung hat in einer Absichtserklärung den Nachbarländern bereits versichert, weiterhin Gas durchzuleiten – selbst im Falle einer zunehmenden Gasknappheit.
Zum anderen ist Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas besonders hoch und damit auch seine Anfälligkeit im Fall eines Lieferstopps. Zwar konnte der Anteil von russischem Gas an den Gesamtgasimporten von 45 Prozent im Mai 2022 bis Mitte Juli auf rund 25 Prozent gesenkt werden. Allerdings nur, weil das Gesamtimportvolumen in diesen Monaten deutlich zurückgegangen ist. Denn die Verluste von russischem Gas konnten durch gestiegene Gasimporte aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien nicht kompensiert werden.
Zur Einschätzung der weiteren Auswirkungen der Gaskrise auf die deutsche und europäische Wirtschaft sind aus Sicht der Deutschen Bank drei mögliche Szenarien zu berücksichtigen:
Anleger sollten in den kommenden Tagen und Wochen die weitere Entwicklung der Gaskrise sehr genau verfolgen. Dazu zählt auch die Vorstellung des EU-Notfallplans für einen Winter ohne russisches Gas voraussichtlich am 20. Juli. Aktuell liegen die Risikoprämien europäischer Aktien und Anleihen gegenüber ihren US-Pendants aufgrund der hohen Energieunsicherheiten auf dem höchsten Stand in diesem Jahr. Konjunktursensible Aktienmärkte wie der deutsche Leitindex DAX sind dabei überproportional anfällig für Kursrücksetzer. Sollte es in der Zeit nach dem 21. Juli jedoch zu einer gewissen Entspannung kommen, etwa weil Russland seine Gaslieferungen via Nord Stream 1 wieder aufnimmt, könnte sich auch für die aktuell besonders hart getroffenen europäischen Finanzmärkte Erholungspotenzial bieten.
Mit Blick auf den Euro ist der 21. Juli ebenfalls ein wichtiges Datum. Zum einen wegen der möglichen Entscheidung zu Nord Stream 1, zum anderem hinsichtlich der dann stattfindenden EZB-Sitzung, auf der mehr Klarheit über den weiteren Zinskurs der Europäischen Zentralbank erwartet wird. Aktuell preisen die Marktteilnehmer ein schwächeres Wachstum in der Eurozone ein, wodurch zunehmend auch die Entschlossenheit der EZB angezweifelt wird, die Zinsen wie angekündigt anzuheben. Im Vergleich zum US-Dollar fiel die Gemeinschaftswährung daraufhin zuletzt auf Parität. Zögert die EZB tatsächlich mit Zinsanhebungen, könnte das die Differenz bei den Kapitalmarktzinsen in den USA und Europa noch vergrößern und die Rolle des US-Dollar als sicheren Hafen weiter stärken. Entspannungssignale vom Gasmarkt hingegen sollten wie beim DAX auch dem Euro Rückenwind verleihen.
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Redaktionsschluss: 15.07.2022, 14:00 Uhr