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Aktien – 12.11.2021
Beim gedanklichen Sprung über den Großen Teich dürften die meisten Aktienanleger zuallererst die großen US-amerikanischen Leitindizes in den Blick nehmen: Sowohl der S&P 500 als auch der Dow Jones Industrial Average („Dow Jones“) sind nicht nur Indikatoren für die Entwicklung des Aktienmarkts in den USA, sondern auch von globaler Bedeutung. Schließlich beinhalten sie einige der größten, wachstumsstärksten und einflussreichsten Unternehmen weltweit, etwa aus der Technologiebranche.
Vergessen wird dabei häufig, dass weder der nur 30 Titel umfassende Dow Jones noch der deutlich breiter aufgestellte S&P 500 die Vielfalt der US-amerikanischen Wirtschaft vollständig abbilden. Denn während beide Indizes sich auf große Unternehmen konzentrieren, die sogenannten Large Caps (abgeleitet von „capitalization“, zu Deutsch: Kapitalisierung), existieren im Schatten dieser Global Player eine Vielzahl kleinerer und mittelgroßer Unternehmen. Diese „Small Caps“ und „Mid Caps“ machen nur einen relativ kleinen Teil der gesamten US-Aktienmarktkapitalisierung aus und werden deshalb als Nebenwerte bezeichnet. Insgesamt stellen sie gemessen an der Anzahl der Unternehmen jedoch das Gros des Firmenuniversums. Als bedeutender Index für Nebenwerte hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der Russell 2000 etabliert.
Wie sinnvoll eine Differenzierung zwischen Large Caps und Small Caps aus Anlegersicht sein kann, zeigte sich zuletzt im Zuge der Coronavirus-Krise. Denn diese machte zum wiederholten Mal deutlich, dass Unternehmen verschiedener Größe ganz unterschiedlich auf Marktereignisse reagieren können: Nach den Kurstiefstständen im März 2020 legte der eher auf den Binnenmarkt und zyklisch ausgerichtete Russell 2000 bis zum Februar 2021 um 130 Prozent zu und damit um 40 Prozentpunkte mehr als der global aufgestellte S&P 500. Seither hat sich das Bild im Rahmen der allmählich nachlassenden konjunkturellen Dynamik, der Lieferkettenprobleme und der hohen Energiepreise jedoch komplett gewandelt: Einem Plus von knapp 25 Prozent im S&P 500, deren Unternehmen gestiegene Kosten aufgrund ihrer großen Marktmacht besser an ihre Kunden weitergeben können, steht ein Zugewinn von nicht einmal 15 Prozent im Russell 2000 gegenüber.
Schaut man in die Vergangenheit, wird deutlich, dass die Phase der besseren Kursentwicklung von Small Caps gegenüber Large Caps noch nicht zu Ende sein muss. Denn in vergangenen Zyklen dauerte diese fünf bis zehn Jahre an. Ein zeitnahes Comeback des Russell 2000 erscheint unter anderem mit Blick auf die Bewertungen möglich. Ausgehend von den Gewinnerwartungen in den kommenden zwölf Monaten sind diese nach ihrem Hoch im Mai 2020 nun wieder auf das Vorkrisenniveau gefallen – wobei der Aufschlag gegenüber dem S&P 500 mittlerweile sogar deutlich unter dem langjährigen Mittel liegt.
Hinzu kommt, dass der Russell 2000 aufgrund seiner Unternehmensstruktur stärker von einer wieder anziehenden Konjunkturdynamik in den USA profitieren dürfte als seine „großen Brüder“. Die Deutsche Bank erwartet eine solche Entwicklung im Laufe des Jahres 2022, unter anderem als Folge der Umsetzung fiskalpolitischer Maßnahmen der Biden-Regierung. Zu diesen zählt etwa das Infrastrukturprogramm „Build Back Better“ mit seinem Fokus auf den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die E-Mobilität und die Energieeffizienz von Gebäuden. Da das Wachstum kleinerer Unternehmen stärker von der Entwicklung der US-Investitionen abhängig ist als das der Global Player, dürften entsprechende Mid und Small Caps ihre Gewinne bei einem erwarteten Ausgabenanstieg überproportional steigern können.
Gegenwind für den Russell 2000 droht vonseiten der Inflation. Denn anders als in vergangenen Hochinflationsphasen ziehen die Preise derzeit weniger aufgrund der aktuell stark steigenden Nachfrage an, als vielmehr infolge von Angebotsdefiziten und Lieferengpässen. Kleineren Unternehmen mit weniger Preissetzungsmacht dürfte es daher wie bereits erwähnt schwerer fallen, die gestiegenen Kosten an ihre Kunden weiterzugeben. Darüber hinaus sind sie durch ihre meist arbeitsintensiveren Produktionsprozesse stärker vom Anstieg der US-Löhne betroffen als viele Large Caps: Bei Unternehmen im Russell 2000 machen Arbeitskosten im Schnitt 16 Prozent des Umsatzes aus, im S&P 500 sind es nur 11 Prozent.
Weitere Belastungen drohen durch den geldpolitischen Wandel der US-Notenbank, der die Finanzierungskonditionen zumindest nicht weiter verbessern dürfte, sowie durch die vergleichsweise hohe Verschuldung der Unternehmen im Russell 2000. Anders als im S&P 500 liegt diese aktuell über dem Durchschnitt der vergangenen 20 Jahre.
Die USA sind und bleiben fester Bestandteil eines breit diversifizierten Aktienmarktportfolios. Für viele Anleger weltweit dürften die großen Indizes erster Anlaufpunkt für ein US-Investment bleiben – und das zu Recht. Entsprechend risikobereite Investoren könnten aber auch US-Nebenwerte in den Fokus nehmen: Aufgrund ihrer Vielfalt und moderaten Bewertungsniveaus erscheinen diese derzeit als eine interessante Möglichkeit, das Anlageuniversum zu erweitern. Im Auge behalten werden sollten dabei vor allem die Entwicklung der Inflation und der Binnenkonjunktur in den USA. Sofern sich Erstere als übergangsweise entpuppt und Zweite wie erwartet dynamisch bleibt, könnten kleinere und mittlere US-Unternehmen wieder eine etwas größere Rolle im Portfolio spielen.
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Redaktionsschluss: 11.11.2021, 13:00 Uhr