ESG-Kriterien in der Vergütung: AnReizstruktur

Sollten ESG-Kriterien Teil der variablen Vorstandsvergütung sein? Es gibt an dieser Kopplung Kritik, doch immer mehr Unternehmen setzen auf einen finanziellen Anreiz. In der Praxis sind allerdings viele Fragen ungeklärt.

ESG-Kriterien in der Vergütung: AnReizstruktur

Die Verknüpfung der Manager-Vergütung mit Nachhaltigkeitszielen soll dafür sorgen, dass nicht nur ambitioniert geplant, sondern auch geliefert wird. Nicht alle Investoren sind aber von dem Konzept begeistert. Illustration: Eva Hillreiner

Bei den großen Aktienkonzernen der Welt scheint die Sache entschieden: Bereits 2021 haben 73 Prozent der S&P-500-Unternehmen einen Teil der Vorstandsvergütung an die Erfüllung von Nachhaltigkeitskriterien gekoppelt. Im DAX waren es damals mindestens 15 Unternehmen, im MDAX elf, jeweils einige mehr als im Vorjahr. Bei den kleineren Unternehmen kommt die ESG-Komponente in der Vergütung deutlich seltener vor. Doch auch hier spricht vieles für eine solche Entwicklung, trotz der aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen die Topentscheider in den Unternehmen weiterhin stehen.

Der Druck unterschiedlichster Stakeholdergruppen wie Mitarbeiter, Lieferanten, Gesetzgeber und Kunden sorgt dafür, dass das Thema Nachhaltigkeit weit oben auf der Unternehmensagenda steht. Auch eine Vielzahl von Investoren und Finanziers dringt auf eine verstärkte Berücksichtigung ökologischer und sozialer Faktoren. Doch helfen dabei finanzielle Anreize für das Management?

Die Kopplung verspricht eine stärkere Aufmerksamkeit und damit eine höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit, wenn das Topmanagement auch persönliche finanzielle Vorteile davon hat, die ESG-Ziele zu erreichen. Außerdem ist sie ein starkes Signal nach außen an nachhaltigkeitsorientierte Stakeholder: Die Leistung unseres Topmanagements wird nicht allein an Finanzzahlen gemessen. Das könnte die Glaubwürdigkeit beispielsweise bei Mitarbeitern erhöhen. Aber auch Investoren ist es wichtig, dass Nachhaltigkeit ganz oben in der Führung verankert ist. Laut einer PwC-Umfrage würden 41 Prozent der Investoren ESG-Ziele auch dann in der Vergütung berücksichtigen, wenn diese mit dem langfristigen Shareholder-Value kollidierten.

Kritische Investoren

Allerdings sind 42 Prozent der Investoren dazu nicht bereit. Entsprechend kritisch blicken sie auf ESG-gekoppelte Vergütungskomponenten. Was, wenn sich das Management nun auf Kosten der Finanzperformance um „seine“ ESG-Ziele kümmert? Schließlich lässt sich manches ESG-Ziel mit kostspieligen Investitionen schneller erreichen. Nachhaltigkeit rauf, Dividende runter. Andere kritisieren, dass die ESG-Hürden oft zu niedrig liegen und die Vergütungskomponente zur Selbstbedienung des Vorstands einlädt.

Weil viele ESG-Kriterien bislang unterschiedlich gemessen und bewertet werden, liegt noch manches im Ermessensspielraum der Kompensationsgremien. Für Außenstehende bleibt die variable ESG-Vergütung dann eine Blackbox. Sie erfahren nicht, an welchen Kriterien, an welchen Messgrößen die Vorstände überhaupt gemessen wurden.

Weg vom Nasenbonus

Auch die Befürworter einer ESG-Anreizstruktur sehen diese Gefahren. Und sie wissen, dass es keine einfachen Antworten geben kann, weil so vieles im Nachhaltigkeitsbereich noch im Ungefähren liegt. „Obwohl die Nachhaltigkeitsberichterstattung EU-regulatorisch ab 2025 für alle großen kapitalmarktorientierten Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern und ab 2026 für alle großen Unternehmen im Sinne der handelsrechtlichen Vorschriften zur Pflicht wird, fehlen in vielen Unternehmen noch ESG-KPIs“, weiß Dominik von Zehmen, Rechtsanwalt bei CMS Hasche Sigle – ab 2025 bedeutet: bereits für den Berichtszeitraum des Geschäftsjahrs 2024. „Doch die Unternehmen arbeiten daran – nicht zuletzt auf Druck der Investoren –, den ‚Nasenbonus‘ durch messbare Größen zu ersetzen.“ Auch Julius Flottmann, auf Vergütung spezialisierter Berater bei Kienbaum, beobachtet diese Entwicklung: „Was vorher im Ermessen des Aufsichtsrats lag, wird jetzt beispielsweise mit Mitarbeiterbefragungen oder Fluktuationsraten objektiviert. Dennoch sieht man weiterhin qualitative Ziele wie ‚die Entwicklung einer nachhaltigen Produktlinie vorantreiben‘.“ Die häufigsten ESG-KPIs sind aktuell der CO2-Ausstoß, Diversität und Mitarbeiterzufriedenheit.

Was vorher im Ermessen des Aufsichtsrats lag, wird zunehmend durch Messungen objektiviert.

Eine Frage der Wesentlichkeit. Nur: Weil ein KPI einfacher zu ermitteln oder zu vergleichen ist, muss er nicht automatisch relevant sein für den jeweiligen Geschäftserfolg oder die Risikobewertung. Christian Arnold, Partner bei Gleiss Lutz, weiß: „Noch vor wenigen Jahren haben die Unternehmen teils verzweifelt gesucht, welche Kriterien sie überhaupt erfassen sollten.“ ESG-Kriterien, die nicht allein dem Gemeinwohl, sondern auch dem Unternehmen dienen sollen, müssen aber genau bei diesen „Wesentlichkeits“-Aspekten („Materiality“) ansetzen. „Inzwischen sind die Unternehmen weiter, sie leiten die Kriterien fokussiert aus dem Geschäftsmodell ab“, sagt Arnold. Für einen Energieversorger oder eine Luftfahrtgesellschaft kann die CO2-Intensität relevant sein. Dann ist der CO2-Ausstoß in Tonnen pro hergestellte Energieeinheit oder geflogenen Kilometer ein wesentliches Kriterium. Für ein Unternehmen mit Fachkräftemangel kann es die Frauenquote in Führungspositionen sein. Theoretisch müssten Hunderte Faktoren auf ihre Wesentlichkeit untersucht werden, um dann zuverlässig die herauszufiltern, die für das eigene Unternehmen wirklich relevant sind.

Oft genug wird ein einzelnes Kriterium nicht reichen, weil mehrere ESG-Faktoren wesentlich für den Erfolg und Misserfolg sein können. Kienbaum-Berater Flottmann weist außerdem darauf hin: „Wenn ein Unternehmen dynamisch wächst, sind relative Vorgaben wie ‚CO2-Ausstoß je Umsatz‘ sinnvoller. Absolute Ziele könnten sonst das Unternehmenswachstum hemmen.“ Manchmal werden eigene KPIs entwickelt werden müssen. Und für manche Bereiche wird es bis auf Weiteres unmöglich sein, mit realistischem Aufwand Daten zu erheben.

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Das richtige Maß

Selbst wenn die wesentlichen KPIs definiert und erhoben sind, wird es schwierig, realistische Ziele zu finden. Diese sollten weder zu einfach noch unerreichbar sein. Doch woran sollen sie sich orientieren, wenn es keine historischen Entwicklungsgrößen, Vergleichswerte aus der Branche oder einheitliche Ratingstufen gibt? Und in welchem Zeitraum sollte das Ziel erreichbar sein? In vielen ESG-Berichten werden ambitionierte Vorgaben für 2030 und darüber hinaus gemacht – doch braucht es nicht auch für die nächsten zwölf Monate heruntergebrochene Teilziele?

„Bei den DAX-Unternehmen sind ESG-Ziele sowohl in den kurz- als auch in den langfristigen Vergütungskomponenten, den LTIs, enthalten“, berichtet Kienbaum-Berater Flottmann. „Unternehmen hingegen, die weniger Erfahrungen mit Nachhaltigkeit-KPIs gesammelt haben, berücksichtigen sie eher in ihren Short-Term Incentives. Denn Ziele für neue KPIs sind auf Jahressicht einfacher zu setzen als für mehrere Jahre.“ Investoren, ergänzt er, wollen aber ebenfalls die Berücksichtigung in den LTIs sehen, weshalb auch kleinere Unternehmen beginnen, Nachhaltigkeit-KPIs im LTI zu verankern.

Eine Frage des Einflusses

Damit nicht genug. Im nächsten Schritt muss nachvollziehbar ermittelt werden, welchen Einfluss ein Vorstand wirklich auf die jeweiligen KPIs nehmen kann. „Kann ein bestimmter Vorstand sinnvoll auf die Reduktion von CO2 einwirken, oder sollte dieser Faktor allein die Kompensation derjenigen beeinflussen, die darauf auch einwirken können? Solche Fragen gehen schon sehr tief hinein in die Steuerung eines Unternehmens“, sagt Jörg Eigendorf, bei der Deutschen Bank für das Thema Nachhaltigkeit konzernweit verantwortlich.

Die grundsätzliche Schwierigkeit für Unternehmen: Werden einzelne ESG-Ziele in bestimmten Vorstandsressorts ausgeklammert, könnten sie indirekt torpediert werden – die „eigenen“ ESG-Ziele haben dann in der Praxis oft Vorrang. „In großen deutschen Börsenunternehmen liegt der Anteil der ESG-Komponenten an der variablen Vergütung derzeit bei 20 Prozent, in vereinzelten Fällen sogar bei 30 Prozent“, berichtet CMS-Hasche-Sigle-Counsel von Zehmen.

Von Faktor bis Scorecard

Die ESG-Metriken können ganz unterschiedlich in die Berechnung der variablen Vergütung eingehen. Weit verbreitet ist der Scorecard-Ansatz: Rund 40 Prozent der Unternehmen, die 2021 im ESG & Incentives Report von Semler Brossy erfasst wurden, nutzen ihn. Dabei wird das Management an unterschiedlichen Kriterien gemessen – ausgewählte ESG-KPIs sind einige davon. Individualziele gelten in rund einem Drittel der Unternehmen. Hier werden für jeden Vorstand individuelle Ziele festgelegt, wobei Nachhaltigkeitsaspekte oft Teil einer größeren „Individualleistungsbewertung“ sind.

Je besser die Vergütungsstandards in Bezug auf Nachhaltigkeit werden, desto stärker werden Stakeholder die Ernsthaftigkeit von Nachhaltigkeitsambitionen daran messen.

Weniger verbreitet sind gewichtete Metriken. Jörg Eigendorf sieht darin Vorteile – aber auch den Aufwand und die Risiken: „Wer konkrete Ziele vorgibt, sollte sie erst ein oder zwei Jahre lang testen, bevor sie Teil der Vergütungsstruktur werden. Sonst kann es passieren, dass die Ziele unter- oder überambitioniert sind. Beides führt zu Kritik.“

Der Faktoransatz – das gesamte variable Vergütungspaket wird je nach ESG-Zielerfüllung prozentual aufgestockt oder reduziert – ist in Deutschland mittlerweile weniger verbreitet. „Beim Faktorverfahren geben die Finanzziele den Ausschlag. Sind sie schwach, wird der Nachhaltigkeitsfaktor die Vergütungssumme wenig verändern“, erläutert Flottmann von Kienbaum. Dennoch kann der Ansatz durchaus sinnvoll sein: „Bei stabilen Geschäftsmodellen mit recht konstanten Geschäftszahlen wirken sich die Nachhaltigkeitsziele merklich aus“, sagt Gleiss-Lutz-Partner Christian Arnold. „Entscheidend ist aber, dass der Faktor in einem Korridor, beispielsweise von 0,8 bis 1,2, definiert wird.“

Auch zum Nutzen des Investors?

In vielen Unternehmen wird an einer ESG-Komponente in der variablen Vorstandsvergütung gearbeitet. Der Weg ist noch lang, Fehlschläge und Enttäuschungen wird es geben. Mancher Investor (und auch mancher Vorstand) mag am Sinn des ganzen Aufwands und Systems zweifeln. Doch mit jedem Jahr kommen Daten und Erfahrungen hinzu, intensiviert sich auch der Austausch über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg. Je besser die Vergütungsstandards in Bezug auf Nachhaltigkeit werden, desto stärker werden Stakeholder die Ernsthaftigkeit von Nachhaltigkeitsambitionen daran messen.

Der Lackmustest wird aber sein: Setzen Unternehmen mit ESG-Vergütungsbestandteilen ihre Nachhaltigkeitsvorhaben erfolgreicher um – und steigern sie dabei zugleich den Wert für ihre Gesellschafter? Für ein aussagekräftiges Ergebnis ist es noch zu früh.

03/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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