Kontinuitätsfalle

Personelle Kontinuität an der Spitze ist eine Stärke vieler Familienunternehmen. Doch unterschiedliche Unternehmensphasen brauchen unterschiedliche Führungscharaktere. Kann diesen Ansprüchen eine Person allein genügen?

kontinuitaetsfalle

Der Reiz der Diskontinuität. Doch in der Unternehmenswelt fühlen sich die Brüche zum Bisherigen selten schön an. Wenn es nicht weitergehen kann mit dem Status quo ante, braucht es immer neue Antworten – und manchmal auch neue Köpfe. Illustration: Eva Hillreiner

Niemand kann alles, aber jeder kann irgendetwas. Wenn sich Unternehmen verändern (müssen), sind meist auch andere Führungsfähigkeiten gefordert. Der Aufbau eines Unternehmens in der Frühphase braucht andere Qualitäten als die Konsolidierung, bei der Prozesse etabliert und Spezialisierungen herausgearbeitet werden müssen. Und die Krise mit oft unangenehmen Entscheidungen schätzt auch nicht jede Führungskraft, die sich vor allem auf Wachstum und Aufbau versteht. In der Coronakrise jedoch wurden viele Unternehmen über Nacht mit ganz neuen Anforderungen konfrontiert. Florierende Unternehmen erleben unverschuldet massive Umsatzeinbrüche. Zugleich verändern Kunden ihre Anforderungen radikal – plötzlich ist digitales Know-how auch dort gefragt, wo bislang persönlicher Kontakt im Vordergrund stand. Und Unternehmen müssen sich die Frage stellen: Kann der Mann oder die Frau an der Spitze den veränderten Anforderungen gerecht werden?

Handeln in Generationen

Für viele Aufsichtsräte oder Investoren liegt die Antwort auf der Hand: Mit den Anforderungen wechselt auch das Führungspersonal. Dazu braucht es nicht einmal eine Krise. Bei jedem notwendigen Strategiewechsel wird geprüft, ob es nicht jemand Passenderes gibt, der bereits Erfahrungen in dem Bereich gesammelt hat. Kein Wunder, dass Geschäftsführungsverträge wie in der Politik auf wenige Jahre geschlossen werden. Verlängerung nur bei Erfolg und Zukunftsperspektive. Bei Familienunternehmen mit einem geschäftsführenden Gesellschafter ist es anders, vor allem, wenn es um den Mann oder die Frau an der Spitze geht. In vielen Familienunternehmen ist personelle Kontinuität in der Unternehmensführung Teil des Selbstverständnisses. Sie denken nicht in Quartalsberichten, auch nicht in Fünfjahresverträgen, sondern in Generationen. Und sind damit in der Vergangenheit auch sehr erfolgreich gewesen, denn Aktionismus kann dem Unternehmen mittel- und langfristig mehr schaden als Kontinuität. Doch dieses Denken könnte sich jetzt, in Zeiten, die von Umbruch und Krise geprägt sind, als Schwäche erweisen.

Verteilte Verantwortung bei Vaude

Antje von Dewitz hat nach der Übergabe von Vaude durch ihren Vater manches geändert. Dazu gehörte auch die Einrichtung hierarchieunabhängiger Fachgremien. Die Neuerungen spiegeln sich sogar in der Inneneinrichtung.

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Foto: Huber/laif

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Foto: VAUDE

Was wäre die persönliche Alternative?

Natürlich wissen auch viele geschäftsführende Gesellschafter, dass starres Festhalten das Wohl des Unternehmens gefährden kann. Doch anders als beim angestellten Manager widersprechen regelmäßige Arbeitgeberwechsel dem Selbstverständnis – erst recht, wenn der Geschäftsführer Gründer und Eigentümer und noch Jahre vom Ruhestand entfernt ist. Welche persönliche Perspektive hätte er dann schon? In der Folge bleibt der Chef, auch wenn er insgeheim ahnt, dass es Zeit wäre zu gehen. Hinzu kommt: „Gründer trauen die Führung ihres Unternehmens keinem anderen zu. Nicht zuletzt, weil sie ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen“, sagt Turnaround-Spezialist Georgiy Michailov vom Kölner Beratungshaus Struktur Management Partner. Ausgerechnet die Unbeirrbarkeit, die Unternehmer am Anfang so erfolgreich macht, verstellt ihnen in anderen Entwicklungsphasen den Blick für das, was jetzt folgen müsste.

Professioneller Blick von außen

Ein Gründer eines Tech-Unternehmens, der es gegen alle Widerstände zum Erfolg gebracht hat, ist es gewohnt, dass alle Fäden bei ihm zusammenlaufen. Doch viele Chefs vom Typ Alleskönner/Selbermacher erkennen viel zu spät, dass sie den nächsten Entwicklungsschritt allein nicht schaffen werden. Statt rechtzeitig für passende Strukturen zu sorgen, neues Führungspersonal einzustellen, Entscheidungen zu delegieren oder eine gut funktionierende Compliance zu installieren, wursteln sie weiter.

„Gründer trauen die Führung ihres Unternehmens keinem anderen zu.“

Georgiy Michailov, Struktur Management Partner

Das gewohnte Management-Repertoire passt zudem in Krisen wie jetzt nicht mehr. Das merken die meisten. Aber welche neue Rolle sie einnehmen müssten, ist nicht immer klar. „Für viele, die heute als Gründer, CEO oder Geschäftsführer an der Spitze stehen, ging es wirtschaftlich immer nur in eine Richtung: aufwärts. Wie sie in Krisen agieren sollten, haben sie nicht gelernt“, sagt Professor Tom Rüsen, geschäftsführender Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU).

Externe Vorstände, neue Gremien

Manchmal wäre es nach Erfahrung der Experten das Beste, den Chef oder die Chefin auszutauschen. Doch das bleibt auch angesichts höchster Not für viele Mittelständler und Familienunternehmen tabu. Was also tun, wenn der Wechsel an der Unternehmensspitze nicht möglich ist?

Vielfach werden von Banken oder anderen Gesellschaftern darum Externe wie Struktur Management Partner gerufen, um auch schmerzhafte Schritte voranzutreiben und ihre Umsetzung zu betreuen. Bei Unternehmen, an denen ein erfahrener Investor oder eine Private-Equity-Firma beteiligt ist, bekommt der Geschäftsführer eindringlichen Rat, wenn sein Kompetenzset nicht mehr ausreicht.

Die gesichtswahrende – und in vielen Fällen einzig umsetzbare – Option ist eine Erweiterung und Professionalisierung der Führungsetage. Rüsen ist davon überzeugt, „dass an einem gut zusammengestellten Führungsteam kein Weg vorbeigeht“. Welche Kompetenzen es dafür braucht, hängt von der jeweiligen Situation ab, in der sich das Unternehmen befindet. Sinnvoll ist es, die Fachressorts zu stärken, die zugleich im Austausch mit allen Unternehmensbereichen stehen.

„Für viele Gründer, CEOs oder Geschäftsführer ging es immer nur in eine Richtung: aufwärts.“

Tom Rüsen, Institut für Familienunternehmen

Wie das Finanzressort. Paul Taaffe, ehemaliger Chief Financial Officer (CFO) und heute Personalberater bei Finance People Solutions, rät, nach einem Kandidaten Ausschau zu halten, der bereits in unterschiedlichen Branchen unterwegs war. Auch Erfahrung mit schwierigen Situationen sollte der oder die Neue mitbringen. Wenn das Geschäftsmodell ins Stocken geraten ist oder die Prozesse im Unternehmen zu langsam, zu teuer oder ungeeignet sind, kann ein Chief Restructuring Officer (CRO) die richtige Wahl sein. Für Unternehmen, die bei der Digitalisierung hinterherhinken, weil sich niemand konsequent mit dem Thema befasst hat, ist ein Chief Digital Officer (CDO) hilfreich.

Es muss aber nicht immer der Vorstand oder die Geschäftsführung umgebaut werden. Antje von Dewitz, Chefin des Outdoorausrüsters Vaude, hat die Verantwortung auf unterschiedliche Schultern verteilt, nachdem sie das Unternehmen von ihrem Vater übernahm. Viele Entscheidungen werden nun in Gremien gefällt, die sich unabhängig von der Hierarchiestufe aus den Fachleuten für das jeweilige Thema zusammensetzen. Dieser Ansatz passt zum Werte- und Führungssystem von Vaude. Für andere Unternehmenskulturen taugt er vermutlich nur bedingt.

Echte Macht abgeben

Sich einzugestehen, dass Talente gefordert sind, die der langjährige Kopf an der Spitze nicht mitbringt, und darum weitere Köpfe ins Haus zu holen oder bestehende zu stärken, ist aber nur ein erster Schritt. Damit er wirklich Mehrwert schafft, gilt es, starke Führungspersönlichkeiten zuzulassen, die auch gegen bislang Bewährtes gehen. Dabei überschätzen geschäftsführende Gesellschafter gelegentlich die eigene Kritikfähigkeit und den Widerstandsgeist langjähriger Gremien, die bei der Vorstandspersonalauswahl einbezogen werden könnten.

„Viele CEOs sagen zwar, dass sie sich einen starken CFO wünschen. In der Realität sieht es dann aber oft ganz anders
aus.“

Paul Taaffe, Finance People Solutions

CFO-Recruiter Taaffe hat das oft genug gesehen: „Viele CEOs sagen zwar, dass sie sich einen starken CFO wünschen. In der Realität sieht es dann aber oft ganz anders aus.“ Wenn der Neue Veränderungen anschiebt, Tempo macht und Forderungen stellt, reagieren die Platzhirsche häufig erbost. Auch Rüsen warnt: „Oftmals sind die Gremien bei mittelständischen Familienunternehmen nicht so besetzt, dass die Mitglieder ihrem CEO mit kompetentem Rat zur Seite stehen könnten“, sagt er. Viel zu oft würden die Posten an alte Weggefährten oder Freunde der Familie vergeben, die mit dem Job überfordert seien. Empfehlungen anderer Unternehmer und auch der Rat von Recruitern sollten darum eingeholt und ernsthaft berücksichtigt werden.

Vielleicht reicht eine vorübergehende Lösung mit einem Interim-Manager, wichtige Anstöße zu geben. Interim-Manager sind bewusst für eine konkrete Aufgabe abgestellt und verlassen das Unternehmen wieder, wenn sie gelöst ist. So können wichtige Entwicklungsschritte umgesetzt werden, und zugleich wird doch die Kontinuität an der Spitze gewahrt.

04/2021
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Autor: Christiane Sommer. Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.