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Ausländische Fachkräfte: Die Regierung will sie, die Unternehmen wollen sie – nur sie selbst machen sich rar. Warum zu wenige nach Deutschland kommen, dafür gibt es viele Erklärungen. Welche stimmen?

Chefsache Fachkräfteanwerbung. Finanzminister Christian Lindner, FDP, wirbt vor Studenten in Ghana für die Arbeit in Deutschland. Foto: picture alliance / photothek / Leon Kuegeler

Chefsache Fachkräfteanwerbung. Finanzminister Christian Lindner, FDP, wirbt vor Studenten in Ghana für die Arbeit in Deutschland. Foto: picture alliance / photothek / Leon Kuegeler

1,5 Millionen Zuwanderer jährlich bräuchte Deutschland gegen den zunehmenden Fachkräftemangel, rechnet die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer vor. Sonst verschärfe sich die Lage der Unternehmen weiter, vor allem da die Babyboomer-Generation nun jahrgangsweise in den Ruhestand geht. Hundertausende Fachkräfte fehlen bereits heute, bis 2035 dürfte die Lücke auf sieben Millionen anwachsen. Aus Europa selbst ist wegen vergleichbarer Demographie immer weniger Arbeitskräftezuwanderung zu erwarten. Doch bis Ende 2022 waren in Deutschland laut Arbeitsministerium nur rund 350.000 Arbeitskräfte aus Drittstaaten mit einer „Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit“. Warum kommen nur so wenige?

Auf Platz 49

von 52 liegt Deutschland im Ranking der Expats.

Die typischen Antworten wiederholen sich seit Jahren: Die komplizierte Sprache, hohe Steuern und Abgaben, geringe Digitalisierung, Ausländerfeindlichkeit. Im März bestätigte ein Vergleich der für qualifizierte Migranten relevanten Rahmenbedingungen aller 38 OECD-Staaten die Sorgen über den unattraktiven Arbeitsort Deutschland. Laut OECD und Bertelsmann Stiftung war Deutschland bei hochqualifizierten Arbeitskräften gegenüber 2019 vom 12. auf den 15. Platz abgerutscht. Auch bei den Unternehmern fiel Deutschland deutlich zurück: Von Rang 6 auf 13. Bei Gründern kommt Deutschland auch erst an 12. Stelle (keine Erhebung 2019).

Der OECD-Vergleich gibt Antworten auf folgende Frage: Warum kommen zu wenige?

  1. Es hakt bei den beruflichen Chancen. Dieser Indikator umfasst beispielsweise die Arbeitslosenquote, Überqualifizierungsrate, den Anteil befristeter Verträge und die Teilzeitarbeitsquote von im Ausland geborenen Akademikern. Hier geht es für Deutschland nicht über das untere Mittelfeld hinaus.
  2. An der Digitalisierung und der Sprache liegt es hingegen offenbar weniger. Beim Indikator „Kompetenzumfeld“, der Internetzugang aber auch Englischkenntnisse umfasst, platziert sich Deutschland in der Spitzengruppe. Egal, ob man Unternehmer, Fachkräfte oder Gründer fragt. Ebenso wurden die „Möglichkeiten für Familienmitglieder“ in allen drei Gruppen als überdurchschnittlich bewerten.

Darüber hinaus wird es komplizierter. Hochqualifizierte Fachkräfte sahen Deutschland bei „Einkommen und Steuern“ tatsächlich nur im unteren Mittelfeld, und auch die Zukunftsaussichten (Erwerb der Staatsangehörigkeit) wurden kritisch eingeschätzt. Unternehmer aus dem Ausland wiederum hatten kein Problem mit Einkommen und Steuern („Spitzengruppe“) und Start-up-Gründer sahen Deutschland bei den Zukunftsaussichten im oberen Mittelfeld. Auch Diversität – wozu das Thema Willkommenskultur gezählt wird – war weder für Fachkräfte noch Unternehmer ein Problembereich, für Gründer aber schon. Fazit der Studienautoren: Deutschland hat sich nicht absolut verschlechtert – die anderen Länder haben aber größere Fortschritte gemacht.

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Wie fühlen sich Expats in Deutschland?

Das Problem der Befunde: Sie widersprechen teils deutlich den Ergebnissen anderer Studien. So hat die Organisation InterNations 12.000 Expats (gut qualifizierte Fachkräfte, die im Ausland leben und arbeiten) gefragt, wie gut sie sich in der neuen Heimat zurechtfinden. Dabei landet Deutschland weit hinten, auf Platz 49 von 52. Während Sicherheit, Gesundheitsversorgung und Umwelt gut abschnitten, lag Deutschland beim „Expat Essentials Index“ – Digitalisierung, Behörden, Wohnungsmarkt und Sprache – auf dem letzten Platz. Auch fiel es schwer, Freundschaften zu schließen, wurden mangelnde Freundlichkeit und Willkommenskultur kritisiert. „Expats in Deutschland zählen zu den unglücklichsten und einsamsten weltweit“, resümiert InterNations. Karriereperspektiven und Gehalt lagen hingegen im oberen Drittel.

Wie die Fachkräfteeinwanderung einfacher werden soll

Mit der im Juni beschlossenen Reform des Einwanderungsrechts soll es für Fachkräfte außerhalb der EU einfacher werden, in Deutschland zu arbeiten. Dazu wurde beispielsweise die Mindestgehaltsschwelle für die seit 2012 etablierte „EU Blue Card“ von 58.400 Euro auf 43.800 Euro Bruttojahresgehalt gesenkt, Familiennachzug und dauerhafter Aufenthalt werden erleichtert. Auch können Fachkräfte in Bereichen tätig werden, für die sie ursprünglich nicht qualifiziert sind.
Ändern werden sich zudem die Anforderungen bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen: Wer mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Herkunftsland anerkannten Berufsabschluss nachweisen kann, ist zur Einreise berechtigt und darf arbeiten – auch wenn die Anerkennung des Abschlusses noch nicht abgeschlossen ist. Voraussetzung ist allerdings, dass eine Gehaltsschwelle erreicht wird. Sonst braucht es doch zuerst eine Anerkennung des Berufsabschlusses.

Zentrales Instrument wird ab 2024 nach dem Vorbild Kanadas ein Punktesystem, das nach zwölf Kriterien wie Qualifikation, Alter und Sprachkenntnisse Punkte vergibt. Wer mindestens sechs Punkte hat, erhält eine „Chancenkarte“, die zu einer Jobsuche in Deutschland binnen eines Jahres berechtigt und verlängert werden kann. Auch der Familiennachzug soll erleichtert werden; der „Spurwechsel“ für Asylbewerber wird erweitert: Selbst wer keinen Anspruch auf einen Asylstatus in Deutschland hat, kann bleiben, wenn Arbeit gefunden wurde.

Aber sie kommen doch

Verbesserungsbedarf gibt es also reichlich, auch wenn die neuralgischen Punkte je nach Studie ganz unterschiedlich zu liegen scheinen. Bei aller Selbstkritik in der Debatte geht allerdings ein wichtiger Befund unter, auf den die Boston Consulting Group aufmerksam macht: Deutschland liegt bei der Erwerbsmigration in absoluten Zahlen weltweit auf Platz 2, nur hinter den USA, aber vor Australien und Großbritannien. Kanada, oft genanntes Vorbild für Deutschland, erreicht Rang 6. Interessanterweise hat sich Deutschland seit 1990 kontinuierlich von Platz 6 nach oben bewegt; kein anderes Land in der Spitzengruppe hat eine vergleichbar positive Entwicklung. BCG hat als Maßstab für ihren „Global Talent Migration Index“ allerdings keine Befragung durchgeführt, sondern lässt die reinen Zahlen sprechen: "Wie viele Menschen kommen mit welchem Bildungshintergrund aus welchen Ländern in die 100 größten Länder weltweit?"

„Sozialleistungen, Arbeitnehmerrechte wie geregelte Arbeitszeiten und Kündigungsschutz sowie relativ viele Urlaubstage sprechen für Deutschland.“

Marc Schattenberg, Deutsche Bank Research

Dabei schneiden die beiden Spitzenreiter in den drei (von sechs) Kategorien „Pull“, „Centrality“ und „Circularity“ hervorragend ab. Pull misst den Marktanteil von hochqualifizierten Immigranten; Centrality die zentrale Rolle in Migrantennetzwerken und Circularity die Anzahl von „Super-Innovatoren“ mit z.B. einer überdurchschnittlichen Anzahl von wichtigen Patenten. Offenbar ist Deutschland ein attraktiver Arbeitgeber: „Sozialleistungen, Arbeitnehmerrechte wie geregelte Arbeitszeiten und Kündigungsschutz sowie relativ viele Urlaubstage sprechen für Deutschland – und sind in anderen Staaten längst nicht selbstverständlich“, betont Marc Schattenberg, Arbeitsmarktexperte bei Deutsche Bank Research. Hinzu kommt, dass deutsche Unternehmen weltweit geschätzt werden für ihre hohe Qualität und Innovationskraft.

Deutschland hat demnach die besten Voraussetzungen, dank Arbeitsmigration ihre Produktivität und Innovationskraft zu steigern. Die Berater gehen in der Schlussfolgerung aber einen Schritt weiter: Länder sollten nicht nur hochqualifizierte Arbeitskräfte anlocken können – was Deutschland offenbar gut kann – sondern auch dafür sorgen, dass sie gut integriert werden. Und hier zeigen sich die Schwächen zu den vielzitierten Vorbildern für Arbeitsmigration Kanada, Neuseeland, Schweden, USA und Australien. Während diese Länder alle einen MIPEX – ein Index, der das Integrationsniveau von Einwanderern misst – im positiven oder leicht positiven Bereich haben, liegt Deutschland darunter im „halbwegs positiven“ Bereich. So wie auch verschiedene andere EU-Staaten wie Italien und Frankreich, Niederlande und Dänemark.

Mehr tun für die Integration

Die größere Aufgabe für Deutschland scheint in der Integration ausländischer Fachkräfte zu liegen. Doch die Bundesregierung zielt mit Reformen vor allem darauf, den ausländischen Fachkräften die Einwanderung nach Deutschland zu erleichtern (siehe Kasten). Dabei müsste sie mindestens ebenso hart daran arbeiten, sie dann auch zu halten, sonst ziehen die mobilen Hoch-Qualifizierten in ein anderes Land fort. Die sinnvollen Maßnahmen zur besseren Integration berühren aber nicht nur Verbesserungen beispielsweise bei behördlichen Prozessen, sondern auch Grundsatzfragen: Sind wir ein Einwanderungsland? Die Antwort auf diese Frage mit den daraus folgenden Konsequenzen von Einbürgerung bis Willkommenskultur ist trotz millionenfacher Zuwanderung in den zurückliegenden Jahren offen. „Auch die Unternehmen selbst sind gefordert, damit sich ihre Fachkräfte aus dem Ausland wohl fühlen und bleiben wollen“, sagt Schattenberg.

Denn: Sollte es Deutschland nicht gelingen, diese Frage im Sinne qualifizierter Immigration zu beantworten, wird es im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe Boden verlieren. Das hätte Folgen. Wenn die Facharbeiter nicht zu ihnen kommen, kommen die Unternehmen eben zu den Facharbeitern.

08/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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