Das EU-Lieferkettengesetz trifft alle

Direkt betrifft das geplante EU-Lieferkettengesetz weniger als 1 Prozent der Unternehmen in der EU. Dennoch sorgt es für Unruhe – aus guten und weniger guten Gründen. Worauf sich Unternehmen realistisch einstellen sollten.

Die EU will mit dem Lieferkettengesetz Sozial- und Umweltstandards über die gesamte Lieferkette etablieren – das könnte sich auch auf die Arbeitsstandards in einer Gerberei in Bangladesh auswirken. Foto: picture alliance / Habibur Rahman / Eyepix Group

Zuerst einmal: Noch ist nichts entschieden, der Entwurf zum EU-Lieferkettengesetz muss erst noch verabschiedet werden. Bis dahin dürfte nicht nur Zeit vergehen, sondern auch noch manches unter dem Einfluss von Interessenverbänden verändert werden. Auch nach Verabschiedung des Gesetzes muss die EU-Gesetzgebung erst einmal in Landesgesetz der Mitgliedsstaaten übersetzt werden und es bleiben zeitliche Übergangsregelungen. Und doch: Wer bereits das deutsche Lieferkettengesetz als zu weitreichend und zu aufwendig kritisiert hat, wird beim EU-Entwurf noch einmal kräftig schlucken. Denn tatsächlich geht der europäische Entwurf deutlich über das deutsche Lieferkettengesetz hinaus. Das wird die Unternehmen verändern – und sie sollten bereits jetzt damit beginnen, sich auf die Neuerungen einzustellen, auch wenn noch viele Fragen offenbleiben.

Die wichtigsten Inhalte des geplanten EU-Lieferkettengesetzes

Der Vorschlag zum EU-Lieferkettengesetz, wie ihn die EU-Kommission Ende Februar 2022 vorgestellt hat, zielt darauf ab, „ein nachhaltiges und verantwortungsvolles unternehmerisches Verhalten in allen globalen Wertschöpfungsketten zu fördern“. Der Vorschlag, der erst noch von Parlament und Rat verabschiedet werden muss, soll für eine EU-weit einheitliche Integration von internationalen Sozial- und Umweltstandards wie den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sorgen. Konkret heißt es: Um ihre gesetzlichen Anforderungen erfüllen zu können, müssen Unternehmen

  • diese zum integralen Bestandteil ihrer Unternehmenspolitik machen,
  • tatsächliche oder potenzielle negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt ermitteln,
  • potenzielle Auswirkungen verhindern oder abschwächen,
  • tatsächliche Auswirkungen abstellen oder sie auf ein Minimum reduzieren,
  • ein Beschwerdeverfahren einrichten,
  • die Wirksamkeit der Strategien und Maßnahmen zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht kontrollieren und
  • öffentlich über die Wahrnehmung ihrer Sorgfaltspflicht kommunizieren.

Auch wenn direkt nur rund 1 Prozent der Unternehmen in der EU betroffen sind, wird die gesamte Lieferkette transparent werden müssen, um die vertraglich vereinbarten Sorgfaltsanforderungen der von der Regelung betroffenen Abnehmer gewährleisten zu können. So wird sich das EU-Lieferkettengesetz auf einen sehr großen Kreis auch mittelständischer Lieferanten auswirken.

Direkt betroffen sind vom EU-Entwurf erst einmal nur zwei Gruppen:

  • Von Anfang an betroffen sind EU-Unternehmen mit beschränkter Haftung mit mindestens 500 Beschäftigten und 150 Millionen Euro Nettojahresumsatz. Das Gesetz richtet sich damit in erster Linie an Großunternehmen (Gruppe 1).
  • Zwei Jahre später gilt das Gesetz auch für Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten und einem Nettoumsatz von mindestens 40 Millionen Euro – allerdings betrifft das nur Unternehmen aus bestimmten „ressourcenintensiven“ Branchen wie Textil, Bergbau und Lebensmittel (Gruppe 2).

Überforderung der Unternehmen?

Dennoch ist allen Beobachtern klar, dass die Auswirkungen des Gesetzes weit über diese Gruppen hinausgehen werden. Denn die Kunden werden viel Dokumentationsaufwand bei ihren Lieferanten abladen, die oft kleinere Unternehmen sind. Um Lieferant der Großen bleiben zu können, werden auch kleinere Unternehmen entsprechend transparent sein müssen. Anders als in der deutschen Version haftet der Abnehmer nicht nur für das direkt vorhergehende Glied in der Lieferkette, sondern auch für die Lieferanten der Lieferanten. „Die neue EU-Gesetzgebung wird die Verantwortung der Unternehmen auf ihre gesamte Lieferkette ausweiten“, erklärt Lavinia Bauerochse, Global Head of ESG Corporate Bank bei der Deutschen Bank. „Geschäftsleitungen sind demnach verantwortlich für die Umsetzung und Überwachung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette des Unternehmens. “

Da beginnt das Problem: Nicht zuletzt unter dem Druck der Öffentlichkeit und ihrer eigenen Kunden haben viele Firmen bereits einen Verhaltenskodex eingeführt, zu dem sich auch ihre direkten Lieferanten verpflichten müssen. Allerdings wird nur selten überprüft, wer wiederum deren Zulieferer sind. So zeigt sich beispielsweise in der Textilfertigung immer wieder, dass renommierte Markenkleidung unter unwürdigen Bedingungen hergestellt wird, weil über ein System von lokalen Unterauftragnehmern die Kontrollmechanismen ausgehebelt werden. Geht es nach dem Gesetzentwurf, muss der europäische Kunde über die gesamte Lieferkette hinweg Transparenz schaffen und sicherstellen, dass international etablierte Umwelt- und Menschenrechtsstandards eingehalten werden. Unternehmen, die dieser Verantwortung gerecht werden wollen, kommen nicht um Kontrollen vor Ort herum und müssen ihre Zulieferer zur Offenlegung ihrer eigenen Lieferbeziehungen zwingen.

„Die neue EU-Gesetzgebung wird die Verantwortung der Unternehmen auf ihre gesamte Lieferkette ausweiten.“

Lavinia Bauerochse, Head of ESG Corporate Bank, Deutsche Bank

Entsprechend laut war der Protest aus der Industrie gegen diese Regel bei Veröffentlichung des Gesetzentwurfs. Allerdings gab es auch von Anfang an Unterstützung von Unternehmen, die sich bereits freiwillig hohen Umwelt- und Sozialstandards verschrieben und Erfahrungen mit einschlägigen Zertifikaten und Labels gesammelt haben, die die Unternehmen vom individuellen Prüfaufwand entlasten. Sie begrüßen nun eine Vereinheitlichung der Anforderungen.

Zahnloser Tiger?

Umwelt- und Sozialverbänden wiederum geht der Entwurf nicht weit genug – ihrer Meinung nach bleiben zu viele Schlupflöcher für Unternehmen, eine Haftung ist nur schwer umzusetzen. Kritik gibt es vor allem an vier Regelungen:

  1. Die Beweispflicht liegt beim Kläger und nicht beim Beklagten. Das mache in der Realität die wasserdichte Beweisführung beinahe unmöglich. Unternehmen müssten daher in der Praxis kaum fürchten, für Verstöße entlang der Lieferkette wirklich belangt zu werden. Zu erwarten sei, dass die betroffenen EU-Unternehmen entsprechende Anforderungen und Haftungsklauseln in ihre Lieferantenverträge integrierten und somit die Verantwortung wieder nach unten delegierten. Ein Nachweis, dass die europäischen Unternehmen ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien, sei damit sehr schwierig.
  2. Das Lieferkettengesetz geht mit der Forderung an die Großunternehmen (Gruppe 1) nach einem Transformationsplan zur Klimaneutralität über die reine Lieferkettenbeziehung deutlich hinaus. Doch wer diesen Plan nicht einhalte, müsse keine Konsequenzen fürchten, monieren Umweltverbände.
  3. Auch beim Thema variable Vergütungen gibt es bislang keine Konsequenzen, wenn beispielsweise Vorstandsvergütungen nicht an Nachhaltigkeitsziele geknüpft werden. Über eine Aufforderung oder Empfehlung geht das Gesetz bislang nicht hinaus.
  4. Der Entwurf spricht explizit von „etablierten Geschäftspartnern“, für die die Unternehmen mitverantwortlich seien. Damit stehen dauerhafte Kunden-Abnehmer-Beziehungen im Fokus des Lieferkettengesetzes – doch zugleich könnte diese Formulierung ein Schlupfloch bieten, indem Abnehmer häufig ihre Lieferanten wechseln.

Unumkehrbarer Trend

So groß der Aufwand auch ist, den die Unternehmen in Vorbereitung auf das Lieferkettengesetz treiben müssen – schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Gesetzentwurf überwiegend im Rahmen dessen bleibt, was ESG-orientierte Investoren und andere Stakeholder heute schon fordern. Zwar steht eine verbindliche Bonusregelungen mit Nachhaltigkeitszielen erst auf wenigen Hauptversammlungen auf der Tagesordnung – doch der Trend geht in diese Richtung. Haftungsrisiken (Artikel Umweltklagen) beispielsweise für Erdölförderunternehmen oder Textilunternehmen wegen Verstößen gegen Umwelt- und Sozialvorgaben sorgen dafür, dass Unternehmen bereits an Klimaneutralität oder Lieferkettenstandards arbeiten. Das Lieferkettengesetz der EU ist also nur ein weiterer Baustein.

Allerdings kommt das Gesetz in einer Zeit, in der die Lage ohnehin angespannt ist: Die Pandemie und die geopolitische Krise zwingen viele Unternehmen bereits, ihre Lieferkette neu aufzustellen. Die Anforderungen an die neuen Geschäftspartner sind gewaltig, wenn diese neben Qualität und Liefertreue auch noch Nachhaltigkeitsstandards ihrer Zulieferer garantieren sollen. Für die EU-Unternehmen bedeutet das noch mehr Sorgfalt bei der Auswahl und immer mehr Berichts- und Prüfpflichten. Unternehmen sollten die verbleibende Zeit daher nutzen, sich schon einmal auf die anstehenden Aufgaben vorzubereiten und die bestehenden Richtlinien und Verfahren auf die Anforderungen auszurichten und Lücken sowie Optimierungsmöglichkeiten vor der Einführung zu identifizieren.

3/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.