Zum Einstieg 160.000 Euro fix

Wirtschaftskanzleien zahlen Berufseinsteigern bis zu 160.000 Euro. Damit setzen sie die gesamte Branche unter Druck. Aber warum werden in anderen Segmenten mit Fachkräftemangel wie die IT-Entwicklung nicht annähernd solche Gehälter gezahlt?

Hochhäuser von unten Fotographiert

Hier sitzen die Spitzenzahler unter den Wirtschaftskanzleien: im Finanzzentrum von Frankfurt. Foto: picture alliance / blickwinkel / S. Ziese

Neue Runde im Wettbieten, noch höhere Spitzeneinstiegsgehälter als im Vorjahr. Schließlich geht es um die Crème de la Crème der Wirtschaftsjuristen. Ein Prädikatsexamen ist Voraussetzung, hinzu kommt eine ausgesuchte fachliche Spezialisierung. Klar ist den Bewerbern um solche Positionen aber auch, dass sie mit einer 35-Stunden-Woche nicht rechnen können. Verfügbarkeit 24/7, Nachtschichten, Unterbrechungen des Urlaubs werden vom Arbeitgeber stillschweigend vorausgesetzt. Dafür gibt es schon für Anfänger ein garantiertes Jahresgehalt von bis zu 160.000 Euro. Seit Jahren sind es allerdings fast immer dieselben Kanzleien, die mit solchen Spitzengehältern für Schlagzeilen sorgen: allesamt kleine, aber feine Ableger US-amerikanischer Wirtschaftskanzleien. Kirkland & Ellis, Milbank, Skadden Arps, Sullivan & Cromwell und Paul Hastings listet die Azur-Datenbank aktuell mit dem Höchstgebot für Neulinge. Bei Kirkland sind zusätzlich 18.000 Euro Bonus möglich. Willkie Farr & Gallagher, ebenso Konstante in der Spitzengruppe, hält mit 155.000 Euro plus Bonuschance den Anschluss.

Die üblichen Spitzenzahler

Damit verdienen diese Berufsanfänger mehr als viele gestandene mittelständische Geschäftsführer. Solche Summen bleiben nicht ohne Auswirkungen auf den gesamten Markt. Zwar betont die Konkurrenz, dass dieses Marktsegment mit ihren Arbeitsbedingungen – und damit auch ihrer Zahlungsbereitschaft – nicht vergleichbar sei. Und sowieso würden die Top-Zahler als relativ kleine, deutsche Einheiten von US-Kanzleien jährlich nur wenige Kandidaten neu einstellen. Kanzleimanager gestehen aber, dass die Mondpreise das Recruiting erschweren. Denn auch wer es bei Milbank & Co. niemals geschafft hätte, geht mit diesen Gehaltsdimensionen im Hinterkopf ins Bewerbungsgespräch. Darum hat auch die Großkanzlei Latham & Watkins inzwischen ein Einstiegsniveau von 145.000 Euro plus Bonus erreicht; deutsche Adressen wie GLNS oder Dissmann Orth bieten immerhin 120.000 Euro an. Selbst relativ kleine Häuser wie Greenfort oder Glade Michel Wirtz zahlen Anfängern sechsstellige Gehälter.

„Die Transparenz im Bereich Gehälter ist gestiegen, die Berufseinsteiger wissen, was zu verdienen ist“

Marc Schattenberg, Deutsche Bank Research

Da können viele Kanzleien nicht mehr mithalten. Auch wenn sie betonen, dass sich das Arbeiten bei ihnen nicht mit der Hoch-Oktan-Arbeit der US-Boutiquen vergleichen lässt: Der finanzielle Abstand zur Spitze darf nicht zu groß werden, um gute Köpfe überhaupt noch zu erreichen. Die Verzweiflung gerade bei Mittelstandskanzleien ist mittlerweile groß: Sie haben wachsende Probleme, die gesuchte Qualität am Arbeitsmarkt einzukaufen. Denn ihre Mandanten können und wollen nicht die Preise zahlen, die US-Boutiquen für Großtransaktionen aufrufen. Spitzengehälter sind mit mittelständischer Mandantschaft nicht zu refinanzieren.

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Der Druck wird noch steigen

Besserung ist nicht in Sicht. „Die Transparenz im Bereich Gehälter ist gestiegen, die Berufseinsteiger wissen, was zu verdienen ist“, erklärt Arbeitsmarktexperte Marc Schattenberg von Deutsche Bank Research. Und diese Erwartungshaltung dürfte noch zunehmen. Denn der Arbeitsmarkt wird in den kommenden Jahren noch deutlich kompetitiver, die Generation der Babyboomer geht in Rente. Um 2030 dürfte diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht haben, die ersten Auswirkungen werden aber bereits Mitte der 2020er Jahre spürbar. „Die Unternehmen müssen natürlich jetzt schon dafür sorgen, dass die älteren und erfahrenen Mitarbeiter ihr Wissen rechtzeitig an die nächste Generation im Unternehmen weitergeben“, sagt Schattenberg.

Doch warum sind in anderen Bewerbersegmenten, in denen gute Köpfe ebenfalls rar sind, keine vergleichbaren Einstellungsgehälter zu finden? Zum Beispiel im IT-Segment. Developer werden nicht nur wie bislang von IT-Unternehmen gesucht, sondern verstärkt auch in anderen Industrien wie Automobilbau, Pharma oder Biotech. Die Corona-Krise hat den Digitalisierungsdruck noch erhöht. Tatsächlich zeigen IT-Gehaltsreports wie beispielsweise von Compensation Partner, dass auch hier immer mehr gezahlt wird. Allerdings liegt das Niveau deutlich unter dem der Wirtschaftsjuristen in Kanzleien.

Was IT-Einsteiger verdienen

Für results hat gehalt.de 4.888 Datensätze von IT-Berufseinsteigern – Personen unter 30 Jahren, weniger als drei Jahre Berufserfahrung – ausgewertet. Demnach erreichen Beschäftigte in der SAP-Beratung mit jährlich rund 49.600 Euro im Schnitt die höchsten Einstiegsgehälter. Es folgen Beschäftigte in der IT-Beratung, Analyse und Konzeption mit rund 48.800 Euro jährlich und Scrum Master/Product Owner mit 48.600 Euro.

Die höchsten „Ausreißer“ finden sich jedoch in der IT-Beratung. 25 Prozent aller Berufseinsteiger verdienen hier ein Jahresgehalt von mindestens 59.300 Euro. Beschäftigte können hier sogar Gehälter bis zu 84.000 Euro jährlich erreichen. Einzelne Ausreißer mit Top-Gehältern arbeiten meist in Bundesländern mit hohem Lohnniveau (wie Hessen, Baden-Württemberg), einer lukrativen Branche (wie Halbleiter, Investitionsgüter, Bankwesen) und/oder einer Firma mit mehr als 1.000 Mitarbeitern.

Typisch sind Einstiegsgehälter zwischen 45.000 und 60.000 Euro, abhängig von der Spezialisierung. So sind Entwickler im Bereich Backend begehrter als Frontend-Developer. Mobile und IT-Beratung gehören ebenfalls zu den einkommensstärkeren Positionen. „Seltene Ausreißer nach oben gibt es, wenn zum Beispiel bei einem Großunternehmen eine strategisch relevante Entwicklung verschlafen wurde und dann dringend umgesetzt werden muss“, erklärt Lucas Fischer von der auf die IT-Branche spezialisierten Personalberatung Paltron. „Da sind auch 70.000 bis 80.000 Euro möglich. Wer einen Doktortitel in Mathematik oder Physik plus Programmierkenntnisse in gesuchten Bereichen wie autonomes Fahren vorzuweisen hat, kann sogar 90.000 Euro zum Einstieg erreichen. Das ist aber extrem selten.“ Natürlich kommt es immer wieder vor, dass ein besonders Hochqualifizierter von Google oder einem anderen Digitalriesen für sagenhafte Gehälter in die USA abgeworben wird. Doch eine Angleichung an kalifornische Konditionen sei nicht spürbar, sagt Fischer. Den Silicon-Valley-Unternehmen werden die Gehälter dort zudem selbst zu teuer, sie wichen vermehrt auf andere Standorte aus.

Druckablass durch Outsourcing

„Es gibt mehrere Gründe, warum im IT-Segment die Gehälter nicht so hoch sind, wie der oft benannte Fachkräftemangel hierzulande erwarten ließe“, erklärt Schattenberg. Der wohl wichtigste Unterschied zu Kanzleien: IT-Entwicklung kann relativ einfach in andere Länder ausgelagert werden. Ob Indien oder Ukraine, es gibt global eine wachsende Zahl an IT-Spezialisten. Diese verdienen im lokalen Vergleich zwar meist sehr gut, sind aber gegenüber deutschen Löhnen günstiger. Auch wenn sich die Gehaltslücke schließt, so bremst die Alternative Outsourcing den Gehaltsanstieg in Deutschland ab. „Neue“ Arbeitskraftmärkte wie Weißrussland werden verstärkt erschlossen, weltweit wächst die Zahl junger IT-Spezialisten. „Außerdem ist im IT-Bereich die formale Qualifikation oft nicht so entscheidend – auch wer sich selbst Programmieren beigebracht hat, besitzt gute Chancen auf Einstellung“, ergänzt Personalberater Fischer.

„Wer einen Doktortitel in Mathematik oder Physik plus Programmierkenntnisse in gesuchten Bereichen wie autonomes Fahren vorzuweisen hat, kann sogar 90.000 Euro zum Einstieg erreichen. Das ist aber extrem selten.“

Lucas Fischer, IT-Headhunter Paltron

Deutsche Rechtskunde lässt sich dagegen ab einem gewissen Niveau nicht in Osteuropa oder Südasien einkaufen. Schattenberg betont einen weiteren Punkt: Wirtschaftsjuristen oder auch Investmentbanker und Unternehmensberater sind besonders eng am Kunden und direkt an der „Wertschöpfung“ beteiligt. Damit spielt ihr Input, ihr Know-how eine unmittelbare Rolle in der Entscheidung, ob dem Kunden die Arbeit auch ihren Preis wert ist. Bei der Softwareentwicklung hingegen sind ganz unterschiedliche Bereiche in der Abstimmung mit dem Kunden beteiligt; der Entwickler arbeitet zudem oft an der Infrastruktur, deren direkter Beitrag zur Wertschöpfung schwerere abzugrenzen ist.

Und schließlich sind nach Auffassung von Arbeitsmarktexperte Schattenberg die außergewöhnlich hohen Gehälter auch eine Kompensation für eine gewisse „Up or out“-Mentalität, die bei solchen Arbeitgebern vorherrsche. Wer nicht bereit ist, immer mehr zu leisten und sich damit für höhere Aufgaben zu empfehlen, könne schnell seine Berufsperspektive verlieren. Allerdings dürften die Betroffenen weich fallen – Prädikatsexamina sind auch bei anderen Wirtschaftskanzleien und in den juristischen Abteilungen von Konzernen hochbegehrt. Dennoch: Im IT-Segment ist „up or out“ nicht verbreitet, die Arbeitsplatzsicherheit entsprechend höher.

Geht’s denn nur ums Geld?

Darum versuchen gerade mittelständischen Kanzleien mit weichen Faktoren wie teamorientierter Unternehmenskultur, attraktiver Work-Life-Balance und Weiterbildungsangeboten den Blick der Bewerber vom Gehalt wegzulenken. Doch andere Häuser scheuen davor zurück, nicht zuletzt aus Sorge vor Trittbrettfahrern: Die von der alten Kanzlei gezahlte Weiterbildung qualifiziert für den Gehaltssprung zum neuen Arbeitgeber. „Es ist ein Problem, dass viele Arbeitnehmer oft nur dann einen deutlichen Gehaltssprung erreichen, wenn sie den Arbeitgeber wechseln. Das muss sich ändern“, empfiehlt Schattenberg daher. Am Ende liegt’s doch immer am Geld. Wenngleich, betont IT-Headhunter Fischer, die Anreizstruktur in der Tech-Branche schon anders sei: „Entscheidend ist, wie spannend das Projekt ist, an dem der Programmierer arbeitet.“

08/2021
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.