Reine Nervensache

Das Start-up Synapticon aus Filderstadt bei Stuttgart arbeitet an der „Industrie 4.0“. Die Schwaben statten Roboter mit einem eigenen Nerven­system aus – damit diese später gefahrlos mit Menschen zusammenarbeiten können

TEXT: DAVID SELBACH

Reine Nervensache

Smartphone als Steuerungsinstrument: Synapticon-Module sorgen dafür, dass Maschinen kommunizieren FOTO: SEBASTIAN BERGER

Auf den Tischen stapeln sich Plastikkisten mit Platinen und Servomotoren, zwischendrin ragen stählerne Gliedmaßen in die Höhe, aus denen Kabelstränge quellen. Und neben Lötkolben und Voltmetern steht eine Halb­literflasche Motoröl. Bei der Firma Synapticon aus Filderstadt bei Stuttgart bauen Programmierer und Ingenieure an der Verbindung zwischen digitaler und realer Welt. Sie entwickeln empfindungsfähige, intelligente Roboter, mit denen Menschen direkt zusammenarbeiten können. Dafür können sie sich nicht allein mit virtuellen Welten beschäftigen oder mit der Frage, wie empfindsam ein Sensor sein muss. Nein, es zählt mitunter auch ganz einfach die richtige Schmierung. „Keine Ahnung, wofür das Öl ist“, sagt Nikolai Ensslen, Gründer und Geschäftsführer des Start-ups, beim Rundgang durch die Loft­etage. „Die Kollegen werden es für irgendetwas gebraucht haben.“

So also sieht es aus an einem Ort, in dem die nächste Stufe der Industrialisierung vorgedacht wird: Synapticon baut selbst gar keine Roboter, in der alten Strumpffabrik in Filderstadt steht trotzdem ein halbes Dutzend davon herum. An den Maschinen testen Ensslens Kollegen ihre Produkte. Das Unternehmen verkauft Elektronikmodule, mit denen Maschinenbauer die Roboter der nächsten Generation entwerfen sollen. Es gibt Module, die Gelenke und Greifer steuern, solche mit Sensoren und dann noch die mit WLAN- oder Bluetooth-Sendern. Sie lassen sich wie Legosteine zusammenstecken, je nachdem, was gebraucht wird. „In kürzester Zeit erhält man eine komplette Robotersteuerung“, erklärt Gründer Ensslen, ein schlaksiger 32-Jähriger mit wachen Augen und Kinnbart. Am Computer schieben Planer dann die grafischen Symbole für Sensoren, Motoren oder Kommunikationsmodule entsprechend dem Aufbau hin und her, verbinden sie per Mausklick, legen Funktionen und Abläufe fest. Und am Ende spuckt das Programm automatisch den passenden Code zur Steuerung des Roboters aus.

Das Ganze erinnert an Bausätze, aus denen Kinder Spielzeugroboter montieren und anschließend per Smartphone-App durchs Wohnzimmer fahren lassen. Ensslen gefällt der Vergleich: „Genauso einfach soll es eigentlich auch sein“, sagt der Gründer. Mit ihren „Somanet“-Modulen spielt die 35-Mann-Firma aus Schwaben an vorderster Front der nächsten technischen Revolution, irgendwo zwischen „Industrie 4.0“ und Automation. Die zündende Idee kam drei Tüftlern im Jahr 2010. Damals hatte Ensslen sich mit seinem Schulfreund Martin Schwarz zusammengetan, der das Unternehmen inzwischen verlassen hat. Der Dritte im Gründerbunde, Andrija Feher, ein groß gewachsener, hagerer Technikexperte, den Ensslen aus dem Inge­nieurs­tudium in Bayreuth kennt, ist geblieben. Er kümmert sich heute als Chief Product Officer in der Firma um Forschung und Entwicklung, während der charismatische Ensslen Kunden umgarnt und Produkte präsentiert.

Roboter, die keinen Käfig brauchen

In einer Dachkammer über der Grafikdesign-Agentur von Ensslens Eltern im schwäbischen Gruibingen träumten sie damals von ihrer eigenen Technologiefirma – sie wollten Industrieroboter mit künstlicher Intelligenz versehen. Doch dann fragten sie Roboterentwickler, was die davon hielten. Und erfuhren, dass künstliche Intelligenz ja schön und gut sei. Aber besonders viel Zeit gehe bei der Roboterentwicklung dafür drauf, jedes Mal die Sensoren und Steuerelemente eines Roboterprototyps aus unterschiedlichen Chips zusammenzulöten, die ursprünglich gar nicht dafür gedacht waren – immer wieder von Grund auf neu. „Da wurde mir klar: Ein Bausatz, der das fertig mitbringt, wäre ein tolles Produkt“, erinnert sich Ensslen.

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„Rückenmark“ für Industrieroboter

Die Idee passte vor sechs Jahren gut in die Zeit. In den USA hatten Robotiker gerade das „Robot Operating System“ (ROS) entworfen, eine Art Standard-Betriebssystem für Roboter. „Das ist das Gehirn. Wir kümmern uns um das passende Rückenmark.“ Deshalb heißen die Synapticon-Produkte auch „Somanet“. Der Name spielt auf das somatosensorische System an – also die Nerven, die Menschen mit Sinneseindrücken versorgen und die Muskeln steuern. Ensslen und seine Mitstreiter merkten: Ein Roboter, der Sinneseindrücke unmittelbar in Bewegungen umsetzt – so, wie ein Mensch Reflexe hat – wäre weitaus schneller und flexibler als jede zentrale Steuerung. Zudem ließen sich mit einer derart verteilten Intelligenz auch Roboter bauen, die Hand in Hand mit Menschen arbeiten könnten. Bislang sind Industrieautomaten aus Sicherheitsgründen hinter Käfigen versteckt, damit sich niemand an ihnen verletzt. Roboter mit „Synapticon inside“ müssen nicht weggesperrt werden. Im Filderstädter Loft steht der Prototyp eines Roboterarms, der eine künstliche Haut bekommen soll. „Sie registriert Berührungen“, sagt Unternehmer Ensslen. „Dadurch spürt der Roboter, sobald er seinem menschlichen Kollegen zu nahe kommt.“

Den Bausatz zu entwickeln war schwieriger als gedacht. Ensslen und seine Partner brauchten letztlich fünf Jahre dafür. Sie hielten sich mit Fördermitteln und Ingenieurdienstleistungen über Wasser, sie zogen ins örtliche Gründerzentrum; im Jahr 2012 steckten der High-Tech-Gründerfonds, die Mittelständische Beteiligungsgesellschaft von Baden-Württemberg sowie private Investoren rund 800 000 Euro in die Firma. Es dauerte dann noch bis ins Jahr 2015, bis das Roboter-Nervensystem endlich fertig war. Der erste Kunde war die amerikanische Stanford University. Seitdem geht es für die Gründer steil bergauf: Der Umsatz ist zuletzt auf 2,3 Millionen Euro gewachsen, im vergangenen Jahr hat Synapticon erstmals Gewinn gemacht.

80 Prozent des Umsatzes kommen inzwischen aus dem Ausland. Synapticon hat viele Kunden in den USA, vor allem Asien treibt das Geschäft. Gerade sind zwei chinesische Ingenieure in Filderstadt zu Gast, die gemeinsam mit den Synapticon-Technikern an einem Industrieroboter arbeiten. Er soll in Zukunft bei Montagefirmen in China Einzug halten, die Mobiltelefone für den Weltmarkt zusammensetzen. „Das Unternehmen wollte einen Roboter präsentieren, ohne vorher je etwas in diesem Bereich gemacht zu haben“, sagt Ensslen. Nach drei Monaten waren die Prototypen für die Messe fertig. Dann ist da noch dieser Baumarktlieferant aus Hongkong: Er hat bisher keinen einzigen Haushaltsroboter im Programm, will aber dank Synapticon-Technik der Erste sein, der einen automatischen Rasenmäher auf den Markt bringt, der ohne die heute üblichen Begrenzungsdrähte rund um die Wiese auskommt.

25 Tüftler in der Strumpffabrik

Mit Aufträgen dieser Art soll Synapticon Geld verdienen: Zuerst hilft man Unternehmen, mit dem Bausatz schnell innovative Prototypen zu entwerfen. Sobald diese dann in Serie gehen, verdient ­Ensslen an jedem Modul, das der Kunde ordert. Zwischenzeitlich ist das Unternehmen von Gruibingen in die frühere Strumpffabrik nach Filderstadt gezogen, die bereits wieder aus allen Nähten platzt. 25 junge Tüftler laufen unter hohen, getünchten Decken in Socken über Kunstrasen. Neben Sitzsäcken und der obligatorischen Spielekonsole stehen Kartons mit Schokoriegeln und ein Popcorn-Automat. Programmierer, Elektroniker und Sensorikspezialisten aus aller Herren Länder sind hier versammelt. Unternehmenssprache ist Englisch. Dass es sie in die schwäbische Provinz verschlagen hat, spielt für die meisten kaum eine Rolle, sagt Gründer Ensslen. „Unser Leben spielt sich hier ab, wir grillen zusammen, gehen gemeinsam feiern.“ Zumindest wenn sie nicht wieder 14 Stunden am Tag coden oder löten. Wer die Synapticon-Welt dann abends spät verlässt, kann auf einem Aufkleber innen neben der Eingangstür die Philosophie der Nerd-Truppe nachlesen: „Vorsicht. Ab hier sind die Dinge eventuell nicht mehr ganz so aufregend.“


results. Das Unternehmer-Magazin der Deutschen Bank 2-2016