Der nächste Winter kommt bestimmt

Anders als befürchtet haben wir den Winter 2022/23 ohne Energieversorgungskrise oder Blackout überstanden. Doch was wird im nächsten Winter, da weiterhin kein Gas aus Russland fließt? Eine nüchterne Bestandsaufnahme.

Rot ist die Hoffnung? LNG, importiertes Flüssiggas, soll Deutschland helfen, unbeschadet durch den nächsten Winter zu kommen.

Rot ist die Hoffnung? LNG, importiertes Flüssiggas, soll Deutschland helfen, unbeschadet durch den nächsten Winter zu kommen. Foto: adobe stock

„Katastrophenschutz rechnet mit Stromabschaltungen im Winter“, „Verfassungsschützer erwarten Krawalle im Herbst“, „Energiekrise: Bundeswehr-Spezialkräfte bereiten sich vor“ – so lauteten im vergangenen Jahr nur einige der zahllosen alarmierenden Schlagzeilen. Zum Glück ist es ganz anders gekommen, die Gasspeicher sind zum Winterende besser gefüllt als lange zuvor. Doch wird das auch für den kommenden Winter gelten? 2022 floss schließlich noch bis Anfang September russisches Gas nach Deutschland, wenngleich in reduziertem Umfang. Anders als in den Jahrzehnten zuvor wird es in diesem Jahr hingegen keinen Nachschub aus dem Osten geben. Reichen die Ersatzkapazitäten aus, den Wegfall zu kompensieren, oder steht uns wieder ein Winter der Einsparungen und des Zitterns bevor?

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Woher kommt das Gas?

Deutschland bezog bis 2021 mehr als die Hälfte seines Erdgases aus Russland. 2021 flossen laut Eurostat insgesamt knapp 58 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland – im Folgejahr war es nur noch knapp die Hälfte. 2023 müssen entsprechend weitere 29 Milliarden Kubikmeter Gas kompensiert werden. Im vergangenen Jahr ist das zu einem großen Teil durch Mehrimporte aus Norwegen und über die Niederlande gelungen. So importierte Deutschland aus Norwegen 14 Milliarden Kubikmeter Gas mehr als noch 2021; aus den Niederlanden flossen 3,3 Milliarden mehr als im Vorjahr. Auch andere Länder fingen mit Durch- und Weiterleitungen die Ausfälle aus Russland auf. Die schlechte Nachricht: Ganz ließ sich das Defizit nicht ausgleichen, und es ist fraglich, ob sich die Importmengen noch deutlich steigern lassen. Seit September ist nur noch die monatliche Liefermenge aus den Niederlanden weiter angestiegen; diejenige aus Norwegen blieb etwa auf dem Niveau des Gesamtjahres.

„Die industrielle Gasnachfrage dürfte strukturell niedriger bleiben als in der Vergangenheit.“

Eric Heymann, Deutsche Bank Research

Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Anders als 2022 verfügt Deutschland schon zu Jahresbeginn über drei schwimmende Terminals für Flüssigerdgas (LNG), weitere Kapazitäten sollen bis zum Winter folgen. Mit dem ersten Terminal in Wilhelmshaven deckt Deutschland rund 6 Prozent seines Gasbedarfs, insgesamt soll per LNG ein Drittel abgedeckt werden. Damit wäre mehr als die Hälfte der russischen Gasliefermenge von 2021 ausgeglichen. Bleiben die Lieferungen aus Norwegen und der Rest-EU etwa stabil, beträgt das Defizit gemessen an der Liefermenge 2021 nur noch etwa 10 Milliarden Kubikmeter Gas.

Faktor Einsparungen

Ein direkter Vergleich von Liefermenge und Verbrauch ist schwierig, weil die offiziellen Angaben zum Gasimport in Kubikmeter, die des Verbrauchs in Kilowattstunden angegeben werden und eine Umrechnung wegen unterschiedlicher Effizienz nicht allgemeingültig ist. Einsparungen im Gasverbrauch von Industrie, Kommunen und Haushalten von rund 14 Prozent (im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch der vergangenen vier Jahre) halfen 2022 ebenfalls, die Versorgungslücke zu schließen. Dabei sparten nach Angaben der Bundesnetzagentur Industrieunternehmen 15 Prozent, private Haushalte und Gewerbebetriebe 12 Prozent ein. In den Wintermonaten lag der Industrieverbrauch sogar 23 Prozent und der von Haushalten und Gewerbe 21 Prozent unter dem Vierjahresdurchschnitt. Diese Einsparungen waren allerdings auch mit deutlichen Wohlfahrtsverlusten vor allem in energieintensiven Industrien verbunden. Papier-, Chemie- und Schwerindustrie haben weniger produziert und teils ganze Produktionsanlagen geschlossen.

Deutsche Bank Research rechnet für 2023 allerdings nicht mit einer deutlichen Veränderung der industriellen Gasnachfrage gegenüber dem Vorjahr: „Wir erwarten zwar ab April in Summe keine weiteren Gaseinsparungen, aber nicht jedes heruntergefahrene Werk wird zurückkommen. Großanlagen in der Chemie können nicht einfach an- und ausgestellt werden“, sagt Analyst Eric Heymann. Außerdem würden Einsparungen durch höhere Energieeffizienz erhalten bleiben. „Die industrielle Gasnachfrage dürfte strukturell niedriger bleiben als in der Vergangenheit.“ Und noch etwas hat geholfen, den Bedarf an russischem Gas zu mindern: Große Mengen russischer Gaslieferungen von insgesamt knapp 60 Milliarden Kubikmetern hat Deutschland in der Vergangenheit direkt an andere Staaten in Europa durchgeleitet, die diese Mengen aber mittlerweile zum Großteil selbst kompensiert haben.

Andere Energiequellen füllen die Lücke

Mehr eingespart wird also wohl nicht, aber ein weiterer Faktor hilft, die Gaslücke zu schließen. 2022 wurden andere Energieträger ausgebaut, insbesondere erneuerbare Energien, Kohle und Öl. Der Primärenergieverbrauch von Mineralöl stieg 2022 um 3 Prozent, der von Stein- und Braunkohle jeweils um 5 Prozent und der von erneuerbaren Energien um 4,4 Prozent. So stieg der Anteil des fossilen Energieträgers Mineralöl am Gesamtprimärenergieverbrauch von 32,5 Prozent (2021) auf 35,2 Prozent, die Erneuerbaren kamen insgesamt auf 17,2 Prozent (15,7 Prozent). Experten überrascht die Beständigkeit des Systems: „In Summe fallen die Verschiebungen im Energiemix erstaunlich gering aus“, bemerkt Heymann. „Immerhin ist die aktuelle Energiekrise eine der größten seit dem Zweiten Weltkrieg.“

15%

sparten Industrieunternehmen 2022 im Gasverbrauch ein.

Doch der Umbau ist ja noch im Gange: Mit dem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien soll auch der Bedarf an Gas zur Stromerzeugung reduziert werden. Allerdings ist Gas – anders als bislang die Erneuerbaren – grundlastfähig und darum in Phasen geringer Erzeugung aus Wind- und Sonnenenergie nicht so einfach zu ersetzen. „Der EE-Ausbau schreitet rasch voran; doch ohne fossile Energieträger wie Gas wird es nicht gehen, solange keine umfassenden Speicherkapazitäten vorhanden sind“, sagt Heymann.

Keine Winterkrise

Die Bundesnetzagentur und das Bundeswirtschaftsministerium mahnen daher für den Winter 2023/24 zur Vorsicht. Eine mögliche Mangellage wollen sie nicht ausschließen. Andere Experten äußern sich zuversichtlicher. Der Gasspeicherverband Ines (Initiative Energien Speichern e.V.) geht davon aus, dass schon Anfang August die Speicher wieder voll aufgefüllt sein werden und Deutschland für den kommenden Winter gut gerüstet ist. Auch Heymann rechnet nicht mit einer Verschärfung der Situation im kommenden Winter. „Wir müssen uns nicht mehr um Versorgungslücken sorgen.“ Bei einem vergleichbaren Gasverbrauch wie 2022 würden die Gasspeicher zum Winterende 23/24 bei komfortablen 70 Prozent stehen. Bei einer – wenig wahrscheinlichen – Rückkehr zu den Verbräuchen vor 2022 wären die Speicher aber immer noch sehr gut gefüllt. Selbst wenn der kommende Winter wieder deutlich kühler ausfällt als der vergangene (der rund 1,5 Grad wärmer war als im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020), rechnet Heymann mit Speicherfüllständen von 30 Prozent. „Die Temperaturen beeinflussen den Gasverbrauch deutlich. Aber da ist immer noch ein Puffer, sollte es eine anhaltende Kältephase geben.“

Weitere Faktoren könnten den Puffer allerdings reduzieren: wenn China nach dem Ende der Corona-Lockdowns den Bedarf an LNG hochfährt oder wenn wichtige Pipelines zerstört oder sonst im Durchfluss unterbrochen werden. Vollständige Sicherheit gibt es nicht, aber Grund zur Panik besteht auch nicht. Deutschland, danach sieht es derzeit zumindest aus, ist auch für den kommenden Winter gerüstet. Nur eine Rückkehr günstiger Energiepreise auf das Vorkriegsniveau sollte niemand erwarten. Energie bleibt teuer, aber die extremen Preisausschläge des Sommers 2022 dürften sich wohl nicht wiederholen.

04/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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