Abschied oder Neuanfang?

Hohe Energiepreise setzen die deutsche Industrie unter Druck, die Sorge vor einer Deindustrialisierung wächst. Könnte ein Umbau der Industrie in Richtung Nachhaltigkeit neue Impulse setzen? Und was bräuchte es dafür?

Das Ruhrgebiet hat den Strukturwandel schon erlebt. Doch Tourismus kann keine deutschlandweite Antwort auf Deindustrialisierung sein.

Das Ruhrgebiet hat den Strukturwandel schon erlebt. Doch Tourismus kann keine deutschlandweite Antwort auf Deindustrialisierung sein. Foto: Paul Langrock/LAIF

Der rapide Energiepreisanstieg im vergangenen Jahr traf die deutsche Wirtschaft ins industrielle Mark. Die energieintensive Stahlbranche erlebte 2022 einen Produktionsrückgang von 15 Prozent. Die Chemieindustrie verzeichnete einen Umsatzeinbruch von zwölf Prozent und meldete den Verlust von 50 000 Arbeitsplätzen. In der Automobilbranche sank der Absatz um zehn Prozent. Insgesamt dürfte der Energiekostenschock Deutschland laut DIW knapp 2,5 Prozent Wirtschaftsleistung gekostet haben – das sind rund 100 Milliarden Euro.


Deutschland hat sich lange gegen eine Deindustrialisierung gestemmt, wie sie sich im angelsächsischen Raum vollzogen hat. Trotz starker Konkurrenz aus China, Südkorea oder Japan sind viele deutsche Industrieunternehmen dank Technologieführerschaft und Kundenorientierung Weltspitze. Der Zugang zu günstigem russischen Gas hat bis 2022 dabei geholfen, sich preislich nicht vollständig von der Konkurrenz aus Fernost abzukoppeln. Energie ist in Deutschland dennoch schon lange deutlich teurer als bei den Wettbewerbern. 2021 kostete Strom (die Zahlen beziehen sich allerdings auf private Haushalte) in Deutschland mehr als doppelt so viel wie in den USA und viermal so viel wie in China. Das war, bevor sich im Jahresverlauf 2022 die Energiepreise zeitweise vervielfachten.

Mittlerweile sind die Preise wieder gesunken. Aber Energie wird nicht auf das Vorkriegsniveau zurückkehren. Das liegt nicht allein an der Stilllegung der Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2, sondern auch an der politisch gewollten Energiewende. Die Sorge ist groß, dass anhaltend hohe Energiekosten zu einer Verlagerung wichtiger energieintensiver Industrien von Deutschland an günstigere Standorte führen. Oder zum Aus von Unternehmen, die die notwendigen Investitionen nicht stemmen können.

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620 Milliarden Euro

Kommen an Transformationskosten laut KfW auf die Industrie zu.

Noch ist nicht ausgemacht, ob es tatsächlich zu einer großen Deindustrialisierungswelle kommen wird. Der Anteil der Energiekosten am Bruttoproduktionswert liegt laut Münchner ifo-Institut in der Autobranche bei 0,5 Prozent, im Maschinenbau bei 0,8 Prozent und in der Chemie bei 3,1 Prozent. Eine Verlagerung von Industrieanlagen ist so teuer, dass kaum ein Unternehmen allein wegen der Energiepreise eine so wichtige Entscheidung trifft.

Doch es könnte ein langsames Sterben geben, bei dem der Energiepreis das Zünglein an der Waage ist. Eric Heymann von Deutsche Bank Research ist überzeugt: „In Zukunft wird es wichtiger, zwischen den deutschen Industrieunternehmen auf der einen Seite und dem Industriestandort Deutschland auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dabei sind wir optimistischer für die Ersteren und pessimistischer für Letzteren, da große deutsche Industrieunternehmen ihre Aktivitäten besser internationalisieren und Produktionsstandorte nach ihren individuellen Kosten- und Kundenstrukturen wählen können. Für den deutschen Mittelstand, insbesondere in den energieintensiven Branchen, wird die Anpassung an eine neue Energiewelt und andere Strukturprobleme eine größere Herausforderung, die manche Unternehmen nicht bewältigen könnten.“

Druck von außen

Seit einigen Monaten hat eine weitere Entwicklung die Diskussion über Industrieinvestitionen in Deutschland angeheizt: der US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA). Mit 370 Milliarden Dollar will die Biden-Regierung die Transformation der heimischen Industrie hin zu mehr Klimaschutz und Energiesicherheit unterstützen. Es soll zahlreiche Steuergutschriften für den Bau von Wind- und Solaranlagen und andere Clean-Energy-Technologien geben. Ein IRA-Eckpfeiler: Das Energieministerium ist befugt, Unternehmen insgesamt bis zu 250 Milliarden US-Dollar für die Förderung sauberer Energie zu leihen. Vor einem Jahrzehnt hatte Tesla einen vergleichbaren Kredit erhalten, um seine Produktion zu erweitern. Der Haken: Ausschließlich „Made in USA“ soll davon profitieren. So erhalten nur heimische Elektroautos mit heimischen Batterien eine Steuergutschrift in Höhe von 7500 US-Dollar.

Deutsche Autobauer haben bereits angekündigt, ihre Investitionen in den USA zu verstärken – auf Kosten europäischer Standorte. Auch Schaeffler, Siemens Energy oder der Kupferkonzern Aurubis erwägen den Aus- oder Aufbau von Produktionskapazitäten in den USA. Einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer zufolge plant bereits jedes zehnte Unternehmen Produktionsverlagerungen. Europa steht unter Druck, im Subventionswettlauf nachziehen. Der Anfang Februar vorgestellte „Green Deal Industrial Plan“ der EU-Kommission sieht bis zu eine Billion Euro Unterstützung für die nachhaltige Transformation vor. Gefördert werden sollen unter anderem Batterien, Windräder, Wärmepumpen, Carbon-Capturing und Speicher-Technologie sowie Solaranlagen. Wie viel von den angekündigten Geldern nur aus bestehenden Töpfen umgeschichtet wird, ist aber noch nicht definiert – ebenso wenig wie die Vergabekriterien.

Nachhaltige Transformation

Der Industrie ist klar, dass sie sich transformieren muss, das Marktpotenzial für nachhaltige Produkte ist gigantisch. Das Bundesumweltministerium geht davon aus, dass sich das Marktvolumen in Deutschland von 2021 bis 2025 verdoppeln wird. McKinsey sieht weltweit das Potenzial für 200 Millionen neue Jobs in nachhaltigen Wirtschaftsbereichen. Allerdings fallen zugleich rund 185 Millionen Arbeitsplätze weg, vor allem rund um fossile Energieträger.

Am Ende werde sich die Transformation nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern auch wirtschaftlich lohnen, rechnet McKinsey in der Anfang 2022 erschienenen Studie „The Net-Zero Transition“ vor. Doch der Aufwand ist gigantisch und wird zu vielen Verwerfungen führen. Nur: Je später die nötige Transformation angegangen werde, desto größer würden die Disruptionen sein. Darum muss der Umbau der Wirtschaft jetzt erfolgen.

Das größte Problem dabei: Die Investitionen werden sich erst spät rentieren. Eine Studie der KfW schätzt die Kosten für eine vollständige Transformation Deutschlands zur Klimaneutralität bis 2045 auf rund fünf Billionen Euro. Das Gros entfalle dabei allerdings auf den Verkehrssektor, für die Industrie rechnet KfW Research mit Investitionen von 620 Milliarden Euro, im Energiesektor von 840 Milliarden Euro, für den Bereich Gewerbe, Handel und Dienstleistungen von 237 Milliarden Euro – und für weitere Anpassungen bestehender Pläne zusätzliche 500 Milliarden Euro Überbrückungsaufwand. Die echten Mehrkosten seien aber deutlich niedriger: Von den 620 Milliarden Euro in der Industrie seien 462 Milliarden Euro Mehrinvestitionen, im Bereich Gewerbe/Handel/Dienstleistungen sei es nur etwa die Hälfte der Gesamtsumme – denn viele Investitionen etwa in Maschinen müssten ohnehin in diesem Zeitraum getätigt werden.

Manche Beobachter zweifeln daran, dass diese Investitionssummen ausreichen werden, weil schon jetzt Engpässe in vielen Bereichen erneuerbarer Energie bestehen. Bei weltweit steigender Nachfrage nach den benötigten Rohstoffen und Produkten dürften die Preise in diesen Bereichen deutlich anziehen.

Wer zahlt die Kosten?

Die Saldobetrachtung, betont McKinsey, spiegelt nicht die Dramatik der Veränderungen in einzelnen Branchen wider. Öl- und Gasproduktion würden sich mehr als halbieren, Stahl und Zement müssten Mehrkosten von 30 beziehungsweise 45 Prozent verkraften. Zugleich müsste die Stromproduktion mehr als verdoppelt werden. Verlierer dieser Entwicklung werden einzelne Industriesegmente sein, aber auch ganze Länder und vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen. Die politischen Verwerfungen, das zeigen die aktuellen Debatten zu Tempolimit und Heizungen, dürften groß werden. Um sie abzumildern, könnten IRA und Green Deal Industrial Plan nicht ausreichen. Schwierige Jahre der Transformation mit hohen Investitionen stehen allen bevor, die Politik wird nicht nur technische Antworten, sondern auch soziale Lösungen entwickeln müssen. Zögern macht’s aber nur noch teurer.

Gelingt der grüne Umbau von Europas Industrie, sind die Wachstumschancen riesig.

Hohe (Energie)kosten werden es der deutschen Industrie jedoch erschweren, den „grünen Umbau“ zu stemmen, denn sinkende Erträge hemmen die Investitionsmöglichkeiten. Subventionen für fossile Energien könnten aber dazu führen, Investitionen in erneuerbare Energien zu verzögern. Darum sind staatliche Hilfen sinnvoll; vor allem in den Aufbau „sauberer“ Technologie. Ein Instrument können dabei Klimaschutzverträge wie die „Carbon Contracts for Difference“ sein, die nicht allein Investitionen unterstützen, sondern auch längerfristig durch staatliche Unterstützung die Mehrkosten für nachhaltige Produktion und Ähnliches ausgleichen.

Und die finanzielle Seite ist nicht das einzige Problem. Im vergangenen Jahr wurde deutlich, dass Lieferengpässe bei notwendigen Produkten wie Solarpaneelen sowie Fachkräftemangel die Energiewende ausbremsen können. Viele Rohstoffe dafür sind nur in wenigen Ländern verfügbar. China könnte den Umbau der europäischen Industrie mit Lieferstopps ausbremsen. Beobachter weisen schon darauf hin, dass die „Made in USA“-Vorgaben des IRA nicht umzusetzen sind und es ohne Zugeständnisse an Bezugsländer, mit denen beispielsweise kein Freihandelsabkommen besteht, nicht gehen wird.

Das Deindustrialisierungsrisiko durch hohe Energiepreise ist real – das Risiko durch eine verpasste Transformation der Industrie aber viel größer. Gelingt der grüne Umbau von Europas Industrie, sind die Wachstumschancen riesig. Deutschland hat alle Voraussetzungen, um bei diesem Thema weltweit führend zu sein. Um das Potenzial zu heben, müssen Wirtschaft und Politik an einem Strang ziehen.

06/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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