„Der Mensch ist ein Geschöpf der Savanne“

Warum ist Aggression nicht aus der Welt zu schaffen, wieso suchen wir uns manchmal sogar aggressive Anführer, und kann uns die Evolution darin unterstützen, Mitgefühl zu zeigen? Evolutionspsychologe Mark van Vugt kennt die Antworten.

Foto: privat

Herr Professor van Vugt, wir alle kennen das Klischee vom rücksichtslosen Mafiaboss, der ein liebevoller Vater ist. Wie passen Aggression und Fürsorge zusammen?

Darin zeigt sich eine grundsätzliche Eigenschaft der Menschen: Wir sind innerhalb unserer Gruppe sehr kooperativ, aber aggressiv gegenüber anderen Gruppen. Wir haben Vertrauen in unsere Nächsten und sind misstrauisch gegenüber Fremden. Unsere Gruppe kann die Familie sein, aber auch der Stamm oder in neuester Zeit die Nation.

Welchen Sinn ergibt das? Die Fremden können gute, die Vertrauten gefährliche Menschen sein …

Das stimmt, aber im Fokus steht der Wettbewerb um Ressourcen – um Territorien oder Partner. Der Mensch ist ein Geschöpf der Savanne. Wir können an den heute dort lebenden Völkern studieren, wie sich innerhalb der Gruppen eine besondere Moral und Kooperationsbereitschaft zeigen, während im Umgang mit anderen Gruppen von Diebstahl über Verletzung bis zur Tötung alles erlaubt ist. Sowohl die Rücksichtnahme als auch die Aggression ist in uns angelegt.

Ist das eine besondere menschliche Eigenschaft, oder verhalten Menschenaffen sich genauso?

Schimpansen zeigen ähnliche Verhaltensmuster, auch sie töten im Angriff und in der Verteidigung. Andere Menschenaffen sind deutlich weniger aggressiv.

Sie haben den Begriff des „evolutionary mismatch“ geprägt. Damit beschreiben Sie menschliche Unzulänglichkeiten, die dadurch entstehen, dass wir uns genetisch viel langsamer entwickeln, als sich unser Umfeld verändert. Gilt das auch für unsere Aggression?

Absolut. Wir sind ungeheuer intelligent, aber auch sehr dumm. Wir bauen seit Hunderttausenden Jahren Waffen, die immer ausgefeilter werden. Diese Waffen waren von Anfang an tödlich, aber zunächst nur im Gebrauch gegen einen einzigen Gegner. Seit einigen Jahrhunderten können wir größere Gruppen von Menschen töten. Und seit einigen Jahrzehnten können wir die gesamte Menschheit auslöschen. Das erscheint mir keine sonderlich gute Entwicklung aus Sicht der Evolution.

„Wir sind innerhalb unserer Gruppe sehr kooperativ, aber aggressiv gegenüber anderen Gruppen.“

Mark van Vugt

Vom Standpunkt des Evolutionsbiologen: Wofür ist Aggression gut?

Gemeinschaftliche Aggression zahlt sich manchmal aus, zumindest für Männer. Sie befinden sich in einem dauerhaften Kampf um Status. Ein höherer Status erleichtert ihnen die Fortpflanzung. Eine Studie über amerikanische Veteranen zeigt, dass Kriegshelden mit Auszeichnung mehr Kinder mit mehr Frauen zeugten als ihre Kameraden ohne Orden. Auch in anderen Ländern zeigt sich, dass Frauen Soldaten mit Auszeichnungen attraktiver finden. Grundsätzlich gilt: Wer weiter oben in der Hierarchie steht, kann sich leichter fortpflanzen.

Ist Aggression für den Aufstieg in der Hierarchie notwendig?

In unserer modernen Gesellschaft ist das oft keine Voraussetzung mehr, manchmal schadet Aggression sogar. Es ist das Prestige, also der Wert einer Person für eine Gruppe, das die Position in der Hierarchie bestimmt. Aber manchmal führt Aggression zu mehr Prestige: Studien zeigen, dass Menschen in Führungspositionen häufiger Merkmale von Psychopathie, Machiavellismus und Narzissmus zeigen – und die neigen häufiger zu Aggression.

Bleiben wir bei der persönlichen Ebene: Wir sind also nicht grundsätzlich alle gleich aggressiv?

Das ist durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Am stärksten ist aber der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Männer üben erheblich mehr physische und verbale Gewalt aus, während Frauen mehr indirekte Aggression wie Tratsch oder Verleumdung nutzen. Männer bilden viel häufiger gewaltbereite Koalitionen mit anderen Männern, um sich zu verteidigen oder zu erobern, manchmal auch mit der Bereitschaft zu töten. Man sieht das heute auch bei Hooligans oder bei der Mobilisierung gewaltbereiter Gruppen über das Internet.

Hat die Aggression der Menschheit im Laufe der Evolution zu oder abgenommen?

Da ist sich die Wissenschaft nicht einig. Es gibt Forschungen, die besagen, dass die Aggression über die vergangenen 10 000 Jahre immer geringer geworden ist, zuletzt besonders deutlich in der Aufklärung. Aber wenn man die Fakten genau betrachtet, lässt sich das nicht belegen. Die Aggression innerhalb von Gruppen hat vermutlich abgenommen, aber die zwischen Gruppen dafür zugenommen.

„Aber wer in unsere Gruppe gehört, definieren wir flexibel.“

Mark van Vugt

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Offensichtlich werden aggressive Anführer bevorzugt. Warum ist das so?

Zunächst einmal: Das funktioniert nicht immer. Wenn ich unter meinen Wissenschaftskollegen eine Führungsrolle anstrebe, werde ich das nicht mit Aggression erreichen. Grundsätzlich werden Anführer geschätzt, die Integrität und Mitgefühl aufweisen. Das ändert sich aber, wenn Feinde innerhalb der Gruppe oder ein äußerer Feind identifiziert werden. Dann schlägt die Stunde der aggressiven Anführer. Aber sie brauchen immer eine Rechtfertigung für ihre Aggression.

Das führt uns in die Weltpolitik. Wir erleben aktuell eine Rückkehr des Rechts des Stärkeren. Helfen Ihre Forschungen, die aktuellen geopolitischen Spannungen zu erklären?

Das glaube ich schon. Wir sehen Abgrenzungen gegen außen und den Versuch, die eigene Gruppe zusammenzuschweißen. Und wenn eine Gruppe einen aggressiven Anführer hat, suchen sich die anderen Gruppen auch aggressive Anführer. Das erleben wir gerade, und das sind die gleichen Verhaltensmuster wie vor Millionen Jahren in der Savanne.

Verstanden, aber damals gab es nur innen und außen. Heute gibt es noch etwas dazwischen: die massive Einwanderung von Fremden in eine Gruppe. Sind wir von der Evolution befähigt, damit umzugehen?

Aus Sicht der Evolution ist es absolutes Neuland, viele Menschen mit anderem Aussehen und anderen Ritualen in eine Gruppe aufzunehmen. Das führt zu Misstrauen und Angst. Aber wer in unsere Gruppe gehört, definieren wir flexibel, wie eine Studie zeigt. Nach einem Basketballspiel wurde den Testpersonen das Interview eines Spielers gezeigt. Sie konnten später wesentlich besser das Team dieses Spielers benennen als seine Hautfarbe. Der Interviewte war Teil einer Mannschaft, und das war wichtiger.

Kurzporträt Mark van Vugt

Mark van Vugt, 57, kennt sich mit den Abgründen der Menschheit aus – und weiß, woher sie stammen. Der Evolutionspsychologe von der Freien Universität Amsterdam erforscht nicht nur unsere Abgründe, sondern sucht auch deren Sinn. Für viel Aufmerksamkeit hat seine These der „evolutionary mismatches“ gesorgt: Die Evolution hält nicht Schritt mit den von uns selbst rasant veränderten Lebensbedingungen.

06/2025
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.






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