Systemversagen bei multiresistenten Keimen

Staat und Wirtschaft schaffen es nicht, einen Wirkstoff gegen multiresistente Keime zu entwickeln. Hier versagen keine Akteure, hier versagt ein System.

Wir haben Bakterien seit der Entdeckung des Penicillins vor fast hundert Jahren gut im Griff. Jetzt drohen erneut Millionen Tote durch Resistenzen.

Wir haben Bakterien seit der Entdeckung des Penicillins vor fast hundert Jahren gut im Griff. Jetzt drohen erneut Millionen Tote durch Resistenzen. Foto: Science Photo Library / Eye of Science

An Warnungen fehlt es nicht. „Jedes Jahr sterben europaweit rund 33 000 Menschen an Infektionen, gegen die keine Antibiotika mehr helfen“, meldet die Bundesärztekammer. In einer aktuellen Studie schätzt eine Forschergruppe die Zahl der Toten weltweit auf 1,27 Millionen. Bei insgesamt fast fünf Millionen Todesfällen waren multiresistente Keime mindestens mitverantwortlich für den Tod. Pessimisten sehen das eigentliche Drama erst noch kommen: 2050 werden mit zehn Millionen Toten weltweit mehr Menschen durch antibiotikaresistente Bakterien sterben als durch Krebs, prophezeite 2014 ein Bericht von Jim O’Neill, dem früheren Chefvolkswirt von Goldman Sachs.

Woher die Resistenzen kommen, ist allen bekannt: Die Ärzte verschreiben zu häufig Antibiotika, die Patienten nehmen sie oft nicht bis zum Schluss. Noch größere Mengen an Antibiotika gehen in Deutschland an Tiere, vor allem in der Massentierhaltung. Außerdem lassen einige Produzenten von Antibiotika Rückstände aus der Produktion teilweise ungefiltert in die Gewässer der Umwelt fließen. Und auch bei vorsichtiger Handhabung sind Resistenzen nicht zu vermeiden – Ausweichstrategien der Bakterien sind Teil des Spiels.

Spinnen die denn alle?

Jim O’Neill, Mitglied des britischen Oberhauses und „Erfinder“ der BRIC-Staaten, warnte vor acht Jahren in einer Studie eindringlich vor multiresistenten Keimen. Seitdem ist nicht viel passiert.

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Foto: Imago

Jeder weiß: Wir brauchen dringend Reserveantibiotika, die auch gegen multiresistente Keime wirken und eingesetzt werden können, wenn alle anderen versagen. Doch es hapert schon in der Grundlagenforschung, seit 35 Jahren ist keine neue Antibiotikagruppe mehr entdeckt worden, es gibt kaum neue Wirkstoffkandidaten. Und die wenigen vielversprechenden Entwicklungen der letzten Jahre sind nie auf den Markt gekommen.

Keiner will forschen …

Dahinter steckt kein Pech, sondern Systemversagen. Das Zusammenspiel von Markt und Staat funktioniert nicht. Das kommt vor. Der Klimawandel ist auch so ein Fall, den wir als Menschheit erst seit Kurzem erkannt, aber noch lange nicht in den Griff bekommen haben. Das Gesundheitssystem wiederum ist ein Kompromiss aus Markt und Staat, in dem das Gleichgewicht der Kräfte stets neu justiert wird – und der manchmal dramatische Fehlentwicklungen zulässt. Die Schaffenskraft des Markts und die Lenkwirkung des Staats sind nicht immer gut genug aufeinander abgestimmt. Auch bei den Reserveantibiotika verhindert das System, dass erfolgreiche Forscher und Entwickler ein dringend benötigtes Medikament auf den Markt bringen.

Die großen Pharmakonzerne haben sich allesamt aus der Entwicklung von Antibiotika zurückgezogen. Das ist zunächst noch kein Problem: Start-ups übernehmen auch in anderen Segmenten der Arzneimittelentwicklung die ersten Schritte. Wenn die Forschungsergebnisse positiv sind, klinken sich die Pharmariesen ein. Aber bei Antibiotika funktioniert das nicht. Das Unternehmen Achaogen hatte nach 15 Jahren Forschung eine Zulassung der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA für ein Antibiotikum bekommen. 2019, nur ein Jahr später, waren die Amerikaner pleite – die Herstellung und die Qualitätskontrolle, das Marketing und der Vertrieb waren zu teuer. Eine zweite Firma musste im selben Jahr ebenfalls mit einer FDA-Zulassung in der Tasche Insolvenz anmelden. Investoren am Kapitalmarkt hatten ebenso abgewinkt wie Big Pharma.

Seit 35 Jahren wurde keine neue Antibiotikaklasse mehr entdeckt

Was läuft da schief? Ganz einfach: Niemand will Antibiotika bis zum Markteintritt finanzieren – schon gar nicht solche, die nur auf Halde gelegt werden sollen. „Normalerweise bringen kleine Biotech-Firmen ihre Produkte in die klinische Phase und werden dann von den großen Pharmaunternehmen gekauft“, sagt Daniel Wienhold, der das Expertenteam Life Sciences bei der Deutschen Bank leitet. „Das klappt bei Antibiotika nicht.“ Auch am Kapitalmarkt beobachtet Wienhold geringes Interesse und hat auch selbst eine sehr klare Meinung: „Ich rate derzeit jedem vom Antibiotikamarkt dringend ab.“ Das ist kein Wunder, denn für die Pharmakonzerne ist die Entwicklung von Reserveantibiotika wirtschaftlich vollkommen unattraktiv.

… weil der Umsatz fehlt

Der Grund dafür ist einfach: Die Umsätze sind zu gering im Vergleich zu den Kosten. Antibiotika werden nur für eine kurze Zeit eingenommen, Reserveantibiotika nach Möglichkeit sogar gar nicht. Außerdem entwickeln die Bakterien zum Teil sehr schnell Resistenzen, sodass die Antibiotika oft nicht sehr lange wirksam sind. Allerdings: Dass die seltene Anwendung allein kein Killerkriterium ist, zeigen die sogenannten Orphan-Arzneimittel. Von diesen Medikamenten gegen seltene Erkrankungen – zum Beispiel zur sehr spezifischen Behandlung verschiedener Krebsleiden – sind seit dem Jahr 2000 in Europa mehr als 250 zugelassen worden. Die Pharmaunternehmen lieben sie: Die Zahl der Anwender lässt sich gut kalkulieren, und die Arzneimittel werden regelmäßig über einen langen Zeitraum hinweg eingenommen. Vor allem aber stimmt der Preis – „Orphan Drugs“ erzielten in den USA im Jahr 2019 pro Patient einen durchschnittlichen Umsatz von 32 000 Dollar.

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1,5 Milliarden

Euro dürfte die Entwicklung eines Reserveantibiotikums ungefähr kosten.

Solche Preise sind für Antibiotika unvorstellbar. Oder anders gesagt: Solche Preise passen nicht ins System. Antibiotika kosten ein paar Euro, zur Not auch ein paar Dutzend, aber nicht Tausende oder gar Hunderttausende. So hoch müsste der Preis aber sein – oder aber die Staaten verpflichten sich, gigantische Mengen abzunehmen, die erst mal nicht gebraucht werden. Auch das passt nicht ins System, denn bezahlt wird nur, was auch verabreicht wird.

Immerhin gibt es Ideen, das System zu verändern. Die Briten versuchen es seit zwei Jahren mit einem innovativen Ansatz: Sie wollen Pharmaunternehmen eine Art Flat Fee unabhängig von der Anzahl der verabreichten Dosen bezahlen. Ein ähnlicher Versuch der Amerikaner, der PASTEUR Act, steckt bislang trotz eines überparteilichen Gesetzentwurfs im Kongress fest. Dieser Ansatz ist spannend, aber er ist komplex und hat sich noch nicht bewährt. Wienhold ist denn auch skeptisch: „Ich fürchte, es wird erst gehandelt, wenn der Druck groß genug ist. Dafür braucht es vermutlich leider viele Tote.“ Selbst wenn gehandelt wird, ist dann erst mal Geduld nötig; bis zur Marktreife eines Antibiotikums gehen etliche Jahre ins Land. Immerhin beobachtet Wienhold: „Es sind durchaus Produkte in der Pipeline, aber die Unternehmen zittern alle um die weitere Finanzierung.“

Kein Markt-, sondern Politikversagen

Eine rasche Lösung für das Problem der resistenten Keime ist also nicht in Sicht. Dafür wird gern die Pharmabranche angegriffen. Das ist aber nicht richtig: Wenn Staat und Markt eine gemeinsame Herausforderung nicht bewältigen, liegt das Versagen bei der Politik. Die Marktwirtschaft funktioniert nach klaren Regeln, aber ihr konkretes Verhalten hängt von dem Rahmen ab, der von der Politik abgesteckt wird. Der Staat hat die Aufgabe, die Marktwirtschaft zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen, und das gelingt hier nicht.

„ Ich fürchte, es wird erst gehandelt, wenn der Druck groß genug ist. “

Daniel Wienhold, Deutsche Bank

Daniel Wienhold, Deutsche Bank

Foto: Deutsche Bank

Hoffnung machen darf allerdings die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, die von Staat und Wirtschaft unter dem Stichwort Nachhaltigkeit eine Verantwortung über den Wahltag und den Profit hinaus einfordert. Diese nirgends institutionalisierte Kraft wirkt auch bei den Reserveantibiotika – zumindest ein bisschen: Mehr als 100 Pharmaunternehmen gründeten 2016 die AMR Industry Alliance, der Branchenverband IPFMA hob 2020 den knapp eine Milliarde Dollar schweren AMR Action Fund aus der Taufe. Beides wäre ohne Druck aus Politik und Gesellschaft sicherlich nicht passiert. Allerdings kommt der Lackmustest erst dann, wenn Wirkstoffkandidaten durch den kompletten Entwicklungszyklus und auf den Markt gebracht werden müssen.

Das ist teuer. Auf 1,5 Milliarden Euro schätzt Wienhold die Entwicklungskosten für ein neues Reserveantibiotikum, ein solches Produkt brauchte mindestens 300 Millionen Euro Jahresumsatz. Das ist illusorisch. Aber man könnte ja auch anders herangehen und als Weltgemeinschaft dem Produzenten einfach mal zehn Milliarden Euro zusagen – das sollte doch genügen. Zehn Milliarden Euro: So viel geben die Deutschen jedes Jahr allein für rezeptfreie Arznei- und Gesundheitsmittel aus – und damit wird kein einziges Leben gerettet.

06/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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