Zertifikate für den Artenschutz
Die EU plant die Einführung von Biodiversitätszertifikaten – erst einmal freiwillig. Was könnte da auf deutsche Unternehmen zukommen?

Müssen Unternehmen in Biotope eingreifen, könnten sie künftig – freiwillig – Biodiversitätszertifikate erwerben. Foto: picture alliance / ZB/euroluftbild.de
Die Aussicht auf weitere Vorschriften und Pflichten dürfte bei vielen Unternehmern erst einmal auf Abwehr stoßen. Die Initiative der EU-Kommission, die die EU-Umweltkommissarin im Juli dieses Jahres vorgestellt hat, sieht eine Roadmap zur Einführung von „Nature Credits“ vor. Das könnte ein ähnliches System von Zertifikaten für die Biodiversität werden, wie es für CO₂-Emissionen längst etabliert ist. Nature Credits sind handelbare Einheiten für zertifizierte Leistungen zum Erhalt der Vielfalt von Genen, Arten und Ökosystemen. Rollt damit eine neue Welle an Bürokratie auf deutsche Unternehmen zu – oder könnte die Vereinheitlichung sogar den bestehenden Aufwand für Naturschutzauflagen verringern?
Zuerst einmal: Bis Ende September 2025 will die EU eine erste Konsultation abschließen. Bis dahin haben unterschiedlichste Interessengruppen Zeit, Feedback zur Ausgestaltung des Credit-Systems zu geben. Parallel wird eine Expertengruppe eingerichtet, die ab Jahresende Methoden und Standards erarbeiten und weitere zentrale Fragen klären soll. Bis 2027 sollen ausgewählte Pilotprojekte finanziell unterstützt werden, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Bis dahin soll auch evaluiert werden, wie effektiv ein Biodiversitätsmarkt funktioniert, der auf Freiwilligkeit beruht. Denn zumindest so lange ist jede Teilnahme an dem Nature-Credit-Vorhaben für Unternehmen freiwillig. Frühestens 2027/28 könnte es einen formal geregelten Biodiversitätszertifikate-Handel geben – abhängig von dem Erfolg der Pilotphase und der politischen Zustimmung zu den EU-Kommissionsplänen.
Engagement für Biodiversität demonstrieren
Wahrscheinlich bleibt die Teilnahme dauerhaft freiwillig. Da aber große Unternehmen künftig im Rahmen der EU-CSRD-Berichtspflicht ohnehin über ihre Auswirkungen auf die Biodiversität Rechenschaft ablegen müssen, wird das Thema sicherlich noch präsenter. Kunden, Mitarbeiter, Finanziers und andere Stakeholder könnten ihre Ansprüche an Unternehmen erhöhen. Die Credits wären eine Möglichkeit, unvermeidbare Eingriffe ins Ökosystem sichtbar zu kompensieren, den Einsatz für Naturschutz zu demonstrieren oder sich für die Verbesserung geschäftsrelevanter Ökosysteme einzusetzen. Unvermeidbar ist ein Eingriff dann, wenn er nicht vollständig verhindert werden kann, ohne dass die unternehmerische Tätigkeit selbst unmöglich wird – und wenn es keine Ausweichmöglichkeiten oder sonstige Alternative gibt. Das gilt beispielsweise für ein Bergbauprojekte oder den Bau eines Staudamms. Interessant dürfte das vor allem für Unternehmen aus der Infrastruktur- und Bauwirtschaft, der Land- und Agrarwirtschaft, dem Rohstoff- und Energiesektor sowie der Nahrungs- und Konsumgüterindustrie sein. Aber auch Finanz- und Versicherungswirtschaft befassen sich bereits damit.
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Das Problem der Nature Credits: Wie misst man den Erfolg von Naturschutzmaßnahmen?
Mit den Nature Credits könnten zwar neue Kosten und bürokratischer Aufwand entstehen, frühzeitig handelnde Unternehmen könnten sich aber einen strategischen Vorteil bei Risikomanagement, Finanzierung, Versicherung und Image verschaffen. Doch wären die Zertifikate wirklich ein belastbarer Nachweis für Umweltschutzengagement? Zweifel sind angebracht, denn das System stößt an enge Grenzen.
Die Grenzen der Nature Credits
CO₂-Zertifikate haben zwei Vorteile, die Nature Credits nicht hätten: eine klare, einheitliche Metrik (1 Tonne CO₂-Äquivalent) und eine ortsunabhängige Wirkung. Wie misst man hingegen den „Naturschutz-Erfolg“? Durch die prozentuale Zunahme an Biodiversität in einer Fläche? Emittiert man in Deutschland eine Tonne CO₂, kann man das durch eine zusätzliche Tonne CO₂-Reduktion in Kanada kompensieren; die Tonne CO₂ wirkt global gleich. Wird hingegen ein Hektar Feuchtgebiet in Europa trockengelegt, kann das nicht einfach mit einem weiteren Hektar Regenwald in Mittelamerika ausgeglichen werden. Ökosysteme sind standortspezifisch. Und während sich das CO₂-Zertifikat nicht mit der Frage beschäftigen muss, ob eine Tonne CO₂ in Mittelamerika oder in Deutschland einen höheren Schaden verursacht, braucht es eine Bewertung, ob der mögliche Verlust einer Käferart mit einem Reservat für seltene Kröten kompensiert werden kann. Artenhäufigkeit, Habitatqualität oder Populationszuwachs sind Faktoren, die berücksichtigt werden müssten. Schwierigkeiten bei der Messbarkeit und Bewertung verkomplizieren auch die von CO₂-Credits bekannten Schwierigkeiten der „Zusätzlichkeit“: Wäre die Verbesserung ohne das Projekt nicht erfolgt?
Für diese Herausforderungen müssen erst noch Standards entwickelt werden. Es droht – wie in anderen ESG-Bereichen – ein Nebeneinander unterschiedlicher Zertifikate und Siegel (siehe unser Artikel zu Textilien dazu hier), das Konsumenten überfordern und zum Greenwashing einladen kann.
„No Net Loss“-Prinzip längst etabliert
Dabei gibt es schon längst Ansätze, ja sogar etablierte Kompensationssysteme im Bereich Naturschutz. In Deutschland besteht bereits seit 1976 eine gesetzliche Eingriffs-/Ausgleichsregelung, die bei Baumaßnahmen oder anderen Eingriffen in die Natur einen Ausgleich von Artenvielfalt vorschreibt. Was an der einen Stelle verloren geht, muss durch Aufwertung an anderer Stelle aufgebaut werden, beispielsweise durch die Renaturierung von Flächen. Dabei werden konkrete Ausgleichsmaßnahmen vorgeschrieben.
Die Maxime dahinter: „No Net Loss“ braucht für die Umsetzung kein System von handelbaren Zertifikaten. Allerdings könnten Zertifikate, einmal etabliert, die Umsetzung von „No Net Loss“ deutlich vereinfachen: Es müsste „nur“ der Schaden ermittelt werden, der durch den Wegfall eines Gebiets entsteht und der mit dem Kauf der entsprechenden Credits ausgeglichen werden muss. Solche Systeme gibt es tatsächlich schon in anderen Ländern. In den USA hat sich in den 1990er Jahren ein System von Kompensationsbanken etabliert. Private oder öffentliche Betreiber restaurieren zum Beispiel Feuchtgebiete oder Ökosysteme wie Prärien. Dafür erhalten sie behördlich anerkannte Credits. Wer nun – unvermeidbar – einen solchen Lebensraum zerstört, muss entsprechende Credits der Kompensationsbank erwerben. Regulatorisch wird dabei genau festgelegt, in welchem Einzugsgebiet ein Credit gültig ist, damit ein Ausgleich nur regional erfolgt.
Biodiversitätszertifikate in anderen Ländern
Auch in einigen australischen Bundesstaaten existieren handelbare Biodiversitätszertifikate im Rahmen öffentlicher Ausgleichsvorgaben. Landbesitzer erhalten für dauerhaft gesicherte oder aufgewertete Lebensräume Credits. Projektentwickler im Bau oder Bergbau sind verpflichtet, diese dann bei konkreten Maßnahmen zu erwerben. Tatsächlich bilden sich die Preise dieser Zertifikate am Markt und variieren nach Angebot und Nachfrage. Ende 2022 lag der Preis für ein „Flughörnchen“-Zertifikat im Bundesstaat New South Wales etwas niedriger als im Sommer desselben Jahres. Der Kurs von Koala-Habitat-Zertifikaten hingegen hatte sich im selben Zeitraum verdreifacht.
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Biodiversitäts-Credit-Projekte sind bereits aktiv oder in der Entwicklung
In England gibt es seit 2024 sogar eine Verpflichtung zum „Biodiversity Net Gain“: Neue Bauvorhaben müssen einen Netto-Zuwachs von mindestens 10 Prozent der biologischen Vielfalt nachweisen. Entwickler können das entweder durch die direkte Aufwertung auf dem Projektgelände selbst oder durch anerkannte „Offsite“-Maßnahmen in der Umgebung erfüllen. Ist das nicht ausreichend möglich, müssen sie staatliche Artenschutzzertifikate vom Umweltministerium erwerben. Diese sind aber bewusst teuer und unflexibel ausgestaltet. So können sie nicht frei gehandelt werden – und sind im Wert halbiert. Das heißt, dass für den Verlust einer Biodiversitätseinheit zwei Credits erworben werden müssen. Bei sehr seltenen Lebensraumtypen werden Preise von bis zu 1,3 Millionen Pfund je Credit aufgerufen. Die Ausgleichszahlungen sollen bewusst eine teure Notlösung sein.
Anfang 2025 waren weltweit mehr als 50 Biodiversitäts-Credit-Projekte aktiv oder in der Entwicklung. Aus dem Klimabereich bekannte Player wie Plan Vivo oder Cercarbono sind auch hier engagiert. Auch die EU unterstützt bereits Pilotvorhaben in Frankreich und Estland. Ein überregional einheitlicher Markt existiert aber bislang nirgendwo. Auch gibt es noch wenig Erfahrung damit, ob ausreichend Unternehmen bereit sein werden, freiwillig den Naturschutz zu finanzieren. Bezweifelt wird zudem die ökologische Wirksamkeit der Credits. Fachleute kritisieren, dass es für Australien keine Belege gebe, dass das „No Net Loss“-Ziel überhaupt erreicht werde. Die Offsets würden den Niedergang der Artenvielfalt bestenfalls verlangsamen, aber nicht stoppen. Die australische Bundesregierung plant aktuell einen freiwilligen ergänzenden „Nature Repair Market“ für nationales Kapital zur Finanzierung von Naturschutzprojekten. Aber viel weiter als in Europa sind die Überlegungen dazu auch noch nicht gediehen.
09/2025
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.