Die Dosis macht das Gift

Finanzinvestoren kaufen sich fleißig in das deutsche Gesundheitswesen ein. Kritiker, darunter der Bundesgesundheitsminister, warnen vor einer Ökonomisierung des Sektors – zulasten der Patienten. Bedenken, die sich bei genauerem Hinsehen als nicht berechtigt erweisen.

Durchgesetzt hat sich das Konzept „Hühnerstange“ nicht: die größte Zahnklinik der Welt in Philadelphia um 1930.

Durchgesetzt hat sich das Konzept „Hühnerstange“ nicht: die größte Zahnklinik der Welt in Philadelphia um 1930. Foto: Picture-Alliance/Brandstaetter Images/Austrian Archives

„Ich schiebe einen Riegel davor, dass Investoren mit absoluter Profitgier Arztpraxen aufkaufen.“ Das erklärt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Herbst 2022 gegenüber „Bild am Sonntag“. Bereits im ersten Quartal 2023 wolle der SPD-Politiker einen Gesetzentwurf verabschieden lassen, „der den Einstieg dieser Heuschrecken in Arztpraxen unterbindet“.

Doch noch immer gibt es keinen Vorschlag aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), und Private-Equity-Gesellschaften übernehmen weiter Teile des Gesundheitswesens. Für 2022 zählt PwC 186 Transaktionen nach 172 Deals im Jahr davor. Den größten Anteil haben Zukäufe von (Fach)arztpraxen und Labors. Steht unser Gesundheitswesen also vor dem Ausverkauf? Mitnichten: Das Engagement der Finanzinvestoren bringt dringend benötigte Innovation in das deutsche Gesundheitswesen und hilft, aktuelle Herausforderungen zu bewältigen.

Das Interesse der Finanzinvestoren am deutschen Gesundheitswesen ist leicht erklärt. Der Sektor ist gigantisch, die Bruttowertschöpfung betrug 2021 407,5 Milliarden Euro, das ist ein Achtel der Gesamtwirtschaft. 7,8 Millionen Menschen arbeiten im Gesundheitswesen, der Sektor ist im vergangenen Jahrzehnt jährlich um 3,8 Prozent gewachsen.

„Aus unserer Sicht ist der Gesundheitssektor ein attraktiver Markt.“

Philipp von Hammerstein, Gimv

Eine Reihe weiterer Faktoren macht das Gesundheitswesen interessant für Investoren. Krank werden Menschen immer, mit der alternden Bevölkerung gilt das noch mehr. Dadurch sind Gesundheitsdienstleistungen konjunkturunabhängig. Dazu kommt der hohe Vergütungsanteil der Krankenkassen – damit ist ein stabiler Umsatz bei einschätzbaren Kosten gesichert. Zudem ist die deutsche Gesundheitswirtschaft noch sehr fragmentiert: Der Markt ist groß, aber kleinteilig, die meisten Praxen sind unabhängig.

Und der demografische Wandel schlägt auch hier zu. Die Inhaber vieler Praxen suchen Nachfolger – und bleiben bei jungen Medizinern oft erfolglos. Viele ziehen eine angestellte Tätigkeit vor, scheuen die Verantwortung und sehen den hohen Investitionsbedarf, der wiederum für Finanzinvestoren ein weiteres Pro-Argument ist: Digitalisierung und Innovation sind im deutschen Gesundheitswesen unterentwickelt – das bedeutet ein vergleichsweise leicht zu hebendes Potenzial. „Aus unserer Sicht ist der Gesundheitssektor ein attraktiver Markt, in dem Finanzinvestoren sowohl über organisches als auch anorganisches Wachstum Mehrwert schaffen können“, erläutert Philipp von Hammerstein, Partner bei dem Private-Equity-Investor Gimv.

Der zunehmende Appetit der Investoren und ihre Übernahmen im Gesundheitswesen riefen schnell Kritiker auf den Plan. Die Skeptiker finden zahlreiche Argumente gegen die Private-Equity-Gesellschaften. Die Organisation „Finanzwende Recherche“ schreibt, Private Equity gefährde „nicht nur die freie Arztwahl und die Qualität der medizinischen Versorgung, sondern auch die Versorgungssicherheit“. Auf Bitte der Gesundheitsminister der Länder prüfte das BMG von Juni 2022 an, ob der Einfluss von Finanzinvestoren im Gesundheitssektor und ihre Käufe von Arztpraxen eingeschränkt werden müssten. Kassenärztliche Vereinigungen sprachen sich für eine Beschränkung aus, teilweise sogar für ein Verbot.

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„Für Professionalisierung, Innovation und Konsolidierung braucht man Kapital und Zeit – das ist es, was Private Equity mitbringt.“

Steve Roberts, PwC

Zu ihrer Meinung kommen Kritiker zum einen durch das operative Vorgehen der Finanzinvestoren. Diese übernehmen Arztpraxen und bündeln sie in medizinischen Versorgungszentren (MVZ). In den MVZ sind dann verschiedene Fachärzte beheimatet – Radiologen, Orthopäden, Internisten. Dadurch werde die unabhängige Beurteilung der Gesundheit der Patienten gefährdet, die Zentren provozierten eine „reine Verteilerfunktion“ des Allgemeinarztes zu Fachärzten, erklärt „Finanzwende Recherche“.

Auch wird kritisiert, dass Private-Equity-Investoren nicht nur die Patientenversorgung in ihre Hand brächten, sondern auch in der Pharmazie auf Einkaufstour seien. Damit wäre die vertikale Teilung zwischen Medikamentenherstellung und Behandlung aufgehoben. Dieser Vorwurf lässt sich nicht belegen: Von den 186 Transaktionen aus dem Jahr 2022 entfallen keine Deals auf Forschung und Medikamentenentwicklung. Außerdem wird so getan, als wäre Private Equity ein Konzern, der abgestimmt agiere. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall – die Finanzinvestoren sind Wettbewerber, die sich höchstens gegenseitig Unternehmen verkaufen.

Private Equity kann Digitalisierung und Innovation

Am meisten Anstoß aber nehmen die Kritiker an dem Geschäftsmodell der Private-Equity-Investoren. Sie werfen ihnen vor, allein nach dem Gebot der Gewinnmaximierung zu wirtschaften. Es steht außer Zweifel, dass Finanzinvestoren hohe Gewinne versprechen. Sie verwalten das Kapital von Versicherungen, Pensions-kassen oder Family Offices und sind verpflichtet, Rendite zu erwirtschaften. Dafür steht ihnen nicht unbegrenzt Zeit zur Verfügung. Die meisten Finanzinvestoren halten ihre Beteiligungen für fünf bis sieben Jahre. Daraus leiten Skeptiker ab: Finanzinvestoren übernehmen, reduzieren mit allen Mitteln Kosten, optimieren die Beteiligungen ohne Rücksicht auf Verluste oder Verständnis für die speziellen Gegebenheiten in den einzelnen Märkten und stoßen dann ein kaputtgespartes Unternehmen ab. Franz Münteferings „Heuschrecken“-Kommentar von 2005 stößt immer noch auf Resonanz.

So einfach ist es aber nicht. Finanzinvestoren entziehen dem Markt kein Geld. Vielmehr sind sie gerade in einem Sektor wie dem Gesundheitswesen, dem eine enorme Transformation bevorsteht, mitunter genau die Richtigen, um die Herausforderungen zu bewältigen. Sie setzen Kapital ein, das für den Ersatz veralteten Equipments und für Innovationsprozesse gebraucht wird. Und neben Geld bringen sie Know-how, Kapazitäten und das Streben nach Effizienz mit. Das ist essenziell in einem sich wandelnden System, das bislang kaum nach Kosten- und Prozesseffizienz gesteuert wurde. Die Manager der Private-Equity-Häuser kennen die Herausforderungen der Wirtschaft, haben Erfolge und Misserfolge verantwortet und aus diesen gelernt. Sie können Best Practices umsetzen und erprobte Modelle in der Breite aussteuern. Im Gesundheitswesen bringt es zudem Vorteile, den stark fragmentierten Markt zu konsolidieren. Große, unternehmerisch organisierte Strukturen wie MVZ mit unterschiedlichen Fachrichtungen unter einem Dach ermöglichen es, den Patienten aus einer Hand zu betreuen: Auf die Verdachtsdiagnose „Bandscheibenvorfall“ des Internisten folgen die Bestätigung durch das MRT des Radiologen und schließlich die Behandlung durch den Orthopäden. Damit wird der Arztbesuch für Patienten und Anbieter effizienter.

Immer mehr Versorgungszentren

Große Häuser können auch dem terminlichen Bedarf besser gerecht werden, ein großes MVZ lässt sich leichter im Schichtsystem organisieren. Zudem sind Finanzinvestoren in den Bereichen Profis, bei denen der dringendste Innovationsbedarf besteht. Die Digitalisierung braucht Unternehmensführer, die Cloudlösungen verstehen, versiertes IT-Back-up mitbringen und bereit sind, neue Wege zu gehen. Das ist bei einem Finanzinvestor mit Softwareunternehmen im Portfolio wahrscheinlicher als beim Allgemeinmediziner, der Termine noch immer am Telefon vergibt. Last but not least sind Finanzinvestoren risikoaffiner als der Durchschnittsmediziner, der persönlich haftet. Und eben diese Bereitschaft zum Risiko tut not, wenn das deutsche Gesundheitssystem künftig nachhaltig wirtschaften soll.

Steve Roberts, Partner und Private Equity Leader Germany & EMEA bei PwC, bringt es auf den Punkt: „Für Professionalisierung, Innovation und Konsolidierung braucht man Kapital und Zeit – das ist es, was Private Equity mitbringt.“ Ein weiterer positiver Punkt zahlt auf ein gesamtwirtschaftliches Konto ein. Private-Equity-Gesellschaften sind ESG-Faktoren verpflichtet, auf die ihre Investoren dringen. Darum bemühen sich die Finanzinvestoren, ihr Portfolio energieeffizient aufzustellen und erneuerbare Energien zur Versorgung zu nutzen – auch in medizinischen Einrichtungen.

Schlechter Ruf ist schlimmer als schlechte Rendite

Bleibt der Vorwurf, dass Finanzinvestoren alle Aktivitäten dem eigenen Gewinnstreben unterordnen – auf Kosten der Qualität der MVZ. Doch diese Sorge ist nach Einschätzung von Experten unbegründet. „Es ist die schlimmste Erfahrung für Private-Equity-Gesellschaften, wegen mangelnder Qualität in die Kritik zu geraten“, erklärt PwC-Partner Alexander von Friesen. Wer auf Kosten der Qualität Marge macht, steht schnell öffentlich in der Kritik und enttäuscht damit auch die Investoren, denen er verpflichtet ist. So bekommt er im nächsten Fonds Probleme, Kapital einzusammeln.

„Es ist die schlimmste Erfahrung für Private-Equity-Gesellschaften, wegen mangelnder Qualität in die Kritik zu geraten.“

Alexander von Friesen, PwC

Klar ist allerdings auch: Es gibt durchaus Themen im Gesundheitswesen, die einer Regulierung bedürfen – unabhängig vom Einstieg eines Finanzinvestors. Beispielsweise gibt es bisher keine Möglichkeit, Qualität im System einheitlich zu messen. Diese Option sollte dringend geschaffen werden, um Behandlungsqualität zu dokumentieren. Das verschafft Patienten einen Überblick und ermöglicht zeitgleich eine Datenbasis, um die Debatte um Ökonomisierung und damit einhergehenden Qualitätsverlust zu entschärfen. Auch eine Stärkung der Position des ärztlichen Direktors in größeren Verbänden wie den MVZ ist sinnvoll. Damit ist gewährleistet, dass der Mediziner an der Spitze das Wohl des Patienten gegenüber ökonomischen Interessen in den Vordergrund stellen kann.

Marktanteilsgrenzen sind ebenfalls denkbar – obschon Märkte mit liberalisiertem Gesundheitswesen dafür keine Argumente liefern. In der Schweiz beispielsweise existieren Ketten und große Strukturen, ein signifikanter Teil des Markts aber ist weiterhin in ärztlichem Eigentum: Es gibt ein funktionierendes Nebeneinander.

Das Gesundheitswesen wird immer ein sensibler und emotionaler Bereich sein, in dem der Staat mehr regulieren muss als in anderen Sektoren. Das liegt in unser aller Interesse. Wenn wir Qualitätssprünge ohne weiter stark ausufernde Kosten erzielen wollen, dann sind Finanzinvestoren dafür vermutlich gut geeignet – im Auge behalten sollte man ihre Aktivitäten sicherlich, aber die Chance haben sie definitiv verdient.

11/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Autor: Isabella-Alessa Bauer. Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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