Nicht schwarz, nicht weiß

Die Industrialisierung hat ihre Schattenseiten, aber sie ist auch ein gewaltiger Wohlstandstreiber. Der nächste Schritt muss ein nachhaltiger sein – dafür kann ein Blick in die Geschichte helfen.

Die Arbeit in einer Hütte, in der dem Gestein das Metall abgerungen wurde, war anstrengend, schlecht bezahlt und sehr gefährlich. Dass sogar Kinder mit anpacken mussten, zeigt diese um 1910 entstandene Aufnahme. Foto: Picture-Alliance / Agentur Voller Ernst

Die Arbeit in einer Hütte, in der dem Gestein das Metall abgerungen wurde, war anstrengend, schlecht bezahlt und sehr gefährlich. Dass sogar Kinder mit anpacken mussten, zeigt diese um 1910 entstandene Aufnahme. Foto: Picture-Alliance / Agentur Voller Ernst

Der Kommunismus wäre ohne Industrialisierung nicht vorstellbar: „… kaum kennt die Weltgeschichte ein Ereignis, welches in dem kurzen Zeitraum weniger Menschenalter so außerordentliche Veränderungen hervorgebracht, so gewaltsam in die Schicksale der gebildeten Völker eingegriffen hat und noch eingreifen wird, als die industrielle Revolution“, schreibt Friedrich Engels 1845 in seinem berühmten Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Die Antwort darauf konnte für Engels und seinen Freund Karl Marx nur in der Ermächtigung des Proletariats liegen.

Das war aus der Langfristperspektive vielleicht kurzsichtig, aus der zeitgenössischen Analyse heraus aber verständlich. Die Industrialisierung hat der Menschheit ungeheuren Wohlstand und Komfort beschert. Allerdings nicht allen einzelnen Menschen – und nicht zu allen Zeiten. Wie alle fundamentalen Veränderungen war auch die Industrialisierung keine Revolution im Sinne einer über Nacht hereinbrechenden Entwicklung. Sie war aber auch kein allmählicher Prozess, an den sich alle Beteiligten hätten anpassen können, sondern sie führte zu gewaltigen Disruptionen.

Die Geschichtsforschung unterscheidet drei Etappen der Industrialisierung: In der Frühindustrialisierung zwischen 1770 und etwa 1840 war die Textilwirtschaft Treiber der Entwicklung mit ersten chemischen Gewerben und Maschinen aus Metall. Ihr folgte die eigentliche industrielle Revolution, die in Deutschland etwa bis zur Reichsgründung dauerte: Die Dampfmaschine ersetzte die unzuverlässigen oder lokalen Energieträger Wind und Wasser durch Kohle und feierte ihren Durchbruch nicht nur in der Textilwirtschaft, sondern auch im Eisenbahn- und Schiffsverkehr. Die Eisen- und Stahlindustrie boomte. Die Hochindustrialisierung, manchmal auch zweite industrielle Revolution genannt, nutzte die Anwendungen der Energieträger Strom und Öl unter anderem in der chemischen und der Fahrzeugindustrie, die Produktion schnellte bis zum Ersten Weltkrieg nach oben.

Weiter Weg zum Gleichgewicht

Die rasante Entwicklung hatte einen hohen Preis und bewirkte weitreichende gesellschaftliche Veränderungen: Die industrielle Konkurrenz schuf eine Krise im Handwerk und stürzte etwa die unterlegenen schlesischen Weber in bittere Armut. In den Zeiten des berüchtigten „Manchester-Kapitalismus“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Entlohnungen miserabel, die Arbeitsbedingungen gesundheitsschädlich und die Arbeitszeiten schier endlos. Außerdem nahm zwar der allgemeine Wohlstand enorm zu, doch das Kapital konzentrierte sich in immer weniger Händen.

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Der Mensch überschätzt oft die Veränderungen in seiner Gegenwart.

Letztlich kehrte die Kraft des Wandels aber ihre gute Seite heraus: Die oft dramatischen Zustände führten nicht nur zu sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, sondern auch zu handfesten Reaktionen wie dem Aufbau von Gewerkschaften. Die Selbstorganisation der Arbeiter, die zeitgleich erfolgende Demokratisierung der Gesellschaft und das zunehmende Bewusstsein einer gesellschaftlichen Verantwortung im Unternehmertum führten zu einem ausgewogeneren Kräfteverhältnis, sodass langfristig der größte Teil der Bevölkerung zu Profiteuren der Industrialisierung wurde.

In der zeitgenössischen Betrachtung lassen wir diese komplexe Geschichte gern simpel unter Industrie 1.0 und 2.0 laufen. Die Dampfmaschine ermöglichte in Phase 1 die Massenproduktion durch Maschinen, während in Phase 2 neue Arbeitsprozesse wie der Akkord und das Fließband völlig neue Produktivitätslevel durch Belohnung von Leistung und Zersplitterung von Arbeitsschritten erlaubten. Mit Industrie 3.0 beschreiben wir das etwa 1970 beginnende Computerzeitalter, in dem (mobile) Telekommunikation und die Nutzung von Rechnern in allen Arbeitsbereichen Einzug halten. Der dadurch erzielte Produktivitätsgewinn ist leider nicht so gut nachweisbar wie der feste Glaube, dass die elektronische Welt eine deutliche Steigerung der Effizienz bewirkt hat.

Ist 4.0 nachhaltig?

Man könnte meinen, dass wir uns noch immer in dieser Phase befänden. Doch mitnichten: Längst ist eine neue, die Industrie 4.0 ausgerufen worden – und diesmal nicht ex post, sondern eher im Vorgriff auf all das, was wir von der Zukunft erwarten: die Digitalisierung und Vernetzung aller Arbeitswelten über das Internet. Mit dem „Internet of Things“ (IoT) hat sich ein Schlagwort gefunden, das über digitale Zwillinge zu intelligenten Fabriken führen soll, die sich quasi selbst steuern und mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) eigenständig auf neue Level heben können.

Wo früher eine Kohlenhalde war, breitet sich heute in Nanchang eine „Schwammstadt“ aus. Die sechs Millionen Einwohner der im Südosten Chinas gelegenen Stadt sind von Überflutungen durch häufige, heftige Regenfälle bedroht. Schwammstädte sollen nicht nur Überschwemmungen verhindern und die Luft abkühlen, sondern das Regenwasser auch halten und nutzbar machen.

Turenscape

Schwammstädte sollen die Folgen der Industrialisierung abmildern

Wo früher eine Kohlenhalde war, breitet sich heute in Nanchang eine „Schwammstadt“ aus. Die sechs Millionen Einwohner der im Südosten Chinas gelegenen Stadt sind von Überflutungen durch häufige, heftige Regenfälle bedroht. Schwammstädte sollen nicht nur Überschwemmungen verhindern und die Luft abkühlen, sondern das Regenwasser auch halten und nutzbar machen.

Die Allgegenwärtigkeit des Smartphones und der Hype um KI scheinen die Ausrufung eines neuen Zeitalters zu rechtfertigen. Doch der Mensch neigt dazu, die Veränderungen in seiner Gegenwart zu überschätzen und sie für historisch bedeutsamer zu halten, als sie im Nachhinein erscheinen. Vielleicht ist die wirkliche nächste Phase der Industrialisierung der Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Die vergangenen Etappen haben den effizienten Einsatz der Ressourcen optimiert, die einen Preis haben: Vorprodukte und Menschen. Jetzt erst beginnen wir zu verstehen, dass wir zum einen Ressourcen viel zu günstig privatisiert und zum anderen die Folgen der Industrieproduktion nicht eingepreist haben.

Das ist ein böses Erwachen, das viele industrielle Errungenschaften infrage stellt. Die gute Nachricht lautet: Für eine nachhaltige Industrialisierung können wir auf vieles zurückgreifen. In der vorindustriellen Phase wurde bereits mit erneuerbaren Energien gearbeitet. Wenn wir zu diesen Wurzeln zurückkehren und sie mit den erlernten Prozessen, Techniken und Technologien der verschiedenen Industrialisierungsphasen kombinieren, dann könnten wir ein wahrhaft neues Industriezeitalter einläuten.

08/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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