Dudarev Mikhail / Adobe Stock

Dudarev Mikhail / Adobe Stock

Für viele Aktienanleger waren die ersten fünf Monate des Jahres zwar zeitweise mit deutlichen Schwankungen verbunden, insgesamt aber doch recht erfolgreich, denn die meisten regionalen Aktienmärkte konnten seit Jahresbeginn Kursgewinne erzielen. Dabei war jedoch eine große Streuung zwischen den einzelnen Märkten zu beobachten und unter der Oberfläche mangelte es dem Aufschwung an Breite, da ein erheblicher Teil der Kursgewinne auf IT-Werte und in den USA vor allem auf die großen Technologiewerte (Big Tech) zurückzuführen war. Vor allem US-Big-Tech konnte nach einem schwachen Jahr 2022 vor dem Hintergrund sinkender Anleiherenditen zuletzt wieder zulegen – in einem wenig dynamischen ökonomischen Umfeld scheinen die hohen langfristigen Wachstumsaussichten von Technologiefirmen viele Anleger überzeugt zu haben. Dagegen blieb beispielsweise der Energiesektor nach seiner sehr starken Wertentwicklung im vergangenen Jahr im Zuge deutlich gesunkener Energiepreise bislang merklich hinter dem breiten Markt zurück.

Abgesehen von einer Vielzahl von Unsicherheiten, etwa im Hinblick auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung oder – bis vor wenigen Tagen – auf die Diskussionen bezüglich der Schuldenobergrenze in den USA, brachten die überraschend positiven Unternehmensergebnisse der im Mai zu Ende gegangenen Berichtssaison zum ersten Quartal 2023 keine wesentlichen Kursimpulse auf breiter Basis. Im US-Leitindex S&P 500 übertrafen zwar 78 Prozent und im europäischen Pendant Stoxx Europe 600 63 Prozent der Unternehmen die Gewinnerwartungen der Analystengemeinde – beides Werte deutlich über dem jeweiligen 10-jährigen Durchschnittswert. Auf Ganzjahresbasis haben sich die Konsensschätzungen für das Gewinnwachstum gegenüber dem Vorjahr jedoch nur leicht verbessert, im S&P 500 auf 0,1 Prozent und im Stoxx Europe 600 auf 1,0 Prozent.

Auf absehbare Zeit sehe ich nur eine geringe Chance, dass die aggregierten europäischen Unternehmensgewinne dauerhaft mit denen in den USA Schritt halten können. Dies ist auf die überdurchschnittlich hohe Abhängigkeit der europäischen Unternehmen vom – derzeit schwächelnden – globalen und allen voran US-Wirtschaftswachstum zurückzuführen. Immerhin erwirtschaften sie rund 60 Prozent ihrer Umsätze außerhalb Europas. Hinzu kommt, dass die Gewinnschätzungen für die bedeutenden Sektoren Grundstoffe und Energie aufgrund der sinkenden Rohstoffpreise noch weiter nach unten korrigiert und europäische Finanzinstitute durch niedrigere Anleiherenditen und eine rückläufige Kreditnachfrage belastet werden könnten.

Dass europäische Aktien gegenüber US-Aktien trotzdem weiterhin im Anlegerfokus bleiben könnten, liegt an ihren interessanteren Bewertungen trotz recht ähnlicher Gewinnwachstumsaussichten. Der Stoxx Europe 600 wird derzeit mit einem Bewertungsabschlag auf Grundlage des Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV) auf 12-Monats-Basis von rund 30 Prozent gegenüber dem S&P 500 gehandelt. Gemessen an ihren jeweiligen historischen KGVs (10-Jahres-Median) ist der Stoxx Europe 600 mit einem Abschlag von 15 Prozent bewertet, während der S&P 500 mit einem Aufschlag von 7 Prozent gehandelt wird. Dabei sind alle Sektoren im S&P 500 „teurer“ als ihre europäischen Pendants.

Am US-Aktienmarkt wiederum dürfte für entsprechend risikobereite Anleger meiner Meinung nach vor allem der Technologiesektor einen näheren Blick wert sein. Nach der Korrektur im vergangenen Jahr legten allen voran die Aktien der US-Tech-Giganten in diesem Jahr bereits eine bemerkenswerte Entwicklung hin. Dabei sind diese nicht günstig und es bestehen weiterhin Risiken, etwa die Möglichkeit strengerer Regulierungen oder eine Wiederbeschleunigung der Wirtschaft, die die Inflation, die Zinsen und den US-Dollar in die Höhe treiben könnte.

Ich gehe jedoch davon aus, dass die derzeitige Verlangsamung des Gewinnwachstums im Technologiesektor nur eine Atempause sein dürfte. Angesichts der strukturellen Trends in den Bereichen Cloud-Computing und künstliche Intelligenz (KI) – die von vielen Marktteilnehmern als die wichtigsten Produktivitätsfaktoren der Neuzeit angesehen werden – dürfte das Gewinnwachstum im Technologiesektor mittelfristig wieder anziehen und das des S&P 500 deutlich übertreffen. Auch wenn die Unternehmensgewinne zunächst gegenüber dem Vorjahr weiter sinken könnten, dürfte die Talsohle bezüglich der Gewinnentwicklung bei Big Tech bereits im zweiten Quartal 2023 erreicht werden, gefolgt von einer tendenziellen Beschleunigung. Dies könnte auch durch den US-Dollar begünstigt werden, der den Sektor aufgrund seiner Stärke und der beträchtlichen Auslandsabhängigkeit der Technologiebranche noch im ersten Quartal des Jahres fast 4 Prozentpunkte des Umsatzes kostete. Dieser Trend könnte sich jedoch nun umkehren.

Über die nächsten Quartale hinaus erscheinen die strukturellen Treiber für große Technologiewerte vielfältig. Angesichts der hohen Gewinnmargen, die in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt fast 40 Prozent über denen des S&P 500 lagen, der soliden Bilanzen, die es ihnen ermöglichen, trotz höherer Zinsen zu investieren und zu wachsen, der diversifizierten Geschäftsmodelle, die zunehmend in andere Sektoren wie die Automobilindustrie und das Gesundheitswesen expandieren, sowie der steigenden Effizienz und Kapitaldisziplin, welche die Margen stützen dürften, halte ich einen deutlichen Bewertungsaufschlag gegenüber dem breiten Markt für gerechtfertigt.

„Interessante Möglichkeiten unter der Oberfläche – Aktienmärkte abseits der großen Leitindizes.“

Ein reines Investment in den Technologiesektor erscheint jedoch weiterhin vergleichsweise riskant – eine breite Diversifizierung innerhalb des Portfolios insbesondere im aktuell von vielen Unsicherheiten geprägten Marktumfeld dagegen ratsam. Anbieten könnte sich dafür eine sogenannte Hantelstrategie, also ein individuell passender Chance-Risiko-Mix unter Berücksichtigung sowohl von Titeln aus dem qualitativ hochwertigen Wachstumssegment, etwa Big Tech aus den USA, als auch von nach wie vor günstig bewerteten Substanzwerten, zum Beispiel aus Europa.

Aktuelle Marktkommentare erhalten Sie im täglichen Newsletter „PERSPEKTIVEN am Morgen“.

Redaktionsschluss: 30. Mai 2023, 15 Uhr