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Nach fast drei Jahren strikter Coronabeschränkungen kam das Aus für die von der chinesischen Regierung zuvor konsequent verfolgte Null-Covid-Strategie im Dezember 2022 für viele Beobachter überraschend – sowohl was die Geschwindigkeit als auch das Ausmaß der politischen Kehrtwende betraf. Deren Folgen sind nicht weniger dramatisch: In wenigen Wochen hat sich das 1,4-Milliarden-Einwohner-Reich von einer vermeintlichen Anti-Corona-Bastion zum weltweiten Infektionshotspot gewandelt. Zwischen dem 8. Dezember 2022 und dem 12. Januar 2023 verstarben nach Angaben der chinesischen Nationalen Gesundheitskommission allein in medizinischen Einrichtungen knapp 60.000 Menschen im Zusammenhang mit einer Covid-Infektion.1 Im Nachgang des chinesischen Neujahrsfestes Anfang Februar dürften sich die Infektionszahlen nochmals erhöhen. Was aber bedeuten diese Zahlen – abgesehen vom unbestreitbaren menschlichen Leid – für die weitere Entwicklung der Volksrepublik? Mündet die akute Coronakrise in einer chinesischen Wirtschaftskrise mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft?

Ich denke nein. Im Gegenteil: Ich erwarte nach voraussichtlicher Überschreitung des Infektionshöhepunkts im Februar im Jahresverlauf eine Verbesserung der chinesischen Wirtschaftsdynamik. Auf das Gesamtjahr betrachtet könnte ein Wachstum von 5 Prozent sogar übertroffen werden – eine spürbare Steigerung im Vergleich zu den weniger als 3 Prozent aus dem Vorjahr. Diese Einschätzung scheinen auch viele Marktteilnehmer zu vertreten, was sich an den zum Teil deutlichen Kursgewinnen chinesischer Aktien im Januar ablesen lässt. Selbst pessimistischere Stimmen wie die der Weltbank rechnen in diesem Jahr noch mit einem chinesischen Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent.

Darüber hinaus sehe ich mit Blick auf China sogar noch positives Überraschungspotenzial – und das aus mehreren Gründen. Im Zuge der neuen Bewegungsfreiheiten hat die Mobilität im Land in den vergangenen Wochen wieder deutlich zugenommen. Menschen reisen, kaufen ein, fahren zur Arbeit – das sind wichtige Schritte hin zu einer Normalität, die nicht nur gesellschaftlich Zuversicht schürt, sondern ganz konkret auch den Konsum antreibt. Anders als in Europa oder den USA, wo die Notenbanken mit steigenden Leitzinsen die Nachfrage abzukühlen versuchen, ist eine mögliche Konjunkturüberhitzung in China bei einer Inflationsrate von unter 2 Prozent aktuell kein Thema. Vielmehr hat die Regierung dort alle Möglichkeiten, die Konjunktur geldpolitisch und fiskalisch weiter zu stimulieren. Ich gehe davon aus, dass Staatspräsident Xi Jinping genau dies in den kommenden Wochen tun und entsprechende Beschlüsse auf dem im März stattfindenden Nationalen Volkskongress absegnen lassen wird. Denn nach dem Kongress dürfte Xi daran gelegen sein, in seiner dann beginnenden dritten Amtszeit ein wirtschaftlich überzeugendes erstes Jahr abzuliefern. Die chinesische Führung wird das Thema Corona daher schnell abwickeln wollen – wohl auch ein Grund für den überraschend schnellen Kurswechsel im vergangenen Dezember –, um den Fokus ab dem zweiten Quartal voll auf Wachstum legen zu können. Als Instrumente könnten unter anderem die sogenannten Local Government Financing Vehicels (LGFV, dt.: Lokale staatliche Finanzierungsvehikel) zum Einsatz kommen, die es den Regionalregierungen erlauben, umfangreiche Investitionen etwa in die Infrastruktur zu tätigen.

„Weltwirtschaft 2023: Sorgt China für neue Wachstumsdynamik – und eine Konjunkturbelebung in Europa?“

Insgesamt gehe ich davon aus, dass Chinas Konjunktur auch dank eines kaufkräftigen Binnenmarkts ab dem Frühjahr an Dynamik zulegen sollte. Allerdings dürften viele bekannte Herausforderungen für die wirtschaftliche Entwicklung bestehen bleiben. Die Coronaproblematik ist dabei aus meiner Sicht nur noch in den kommenden Wochen virulent. Mittelfristig könnte jedoch der angespannte heimische Immobilienmarkt wieder stärker ins Blickfeld rücken, auch wenn Peking bei den Kapitalvorschriften und im Bereich Refinanzierung bereits im vergangenen Jahr wichtige Stabilisierungsschritte unternommen hat. Ein Unsicherheitsfaktor bleibt zudem der chinesische Umgang mit Taiwan, selbst wenn es nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen sollte.

Langfristig bleiben vor allem drei Baustellen für China. Erstens die vergleichsweise geringe Produktivität der Wirtschaft, die sich beispielsweise in überdimensionierten Infrastrukturprojekten, etwa Geisterstädten wie das gescheiterte Xiangyun-Projekt, manifestiert. Zweitens der immer härtere Kampf um die Technologieführerschaft mit den USA, der unter anderem zu langfristigen Versorgungsengpässen bei den für die zukünftige Wirtschaftsentwicklung so wichtigen Computerchips führen könnte. Zwar hat das Reich der Mitte beim Aufbau seiner Halbleiterindustrie in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, insbesondere bei Hochleistungschips aber die Pläne verfehlt. Die dritte große Herausforderung betrifft die Demografie. Diese dürfte auf lange Sicht dramatische Folgen haben, sollten sich die Prognosen der Shanghai Academy of Social Sciences bewahrheiten. Demnach könnte die chinesische Bevölkerung ab 2026 bis 2100 sukzessive von mehr als 1,4 Milliarden auf 587 Millionen schrumpfen. Ab 2045 würden dadurch weniger als zwei Chinesen im arbeitsfähigen Alter auf einen Rentner kommen – aktuell beträgt das Verhältnis noch fünf zu eins. Diese Entwicklung umzukehren, ist schwierig, wie sich in den Industrieländern bereits seit geraumer Zeit zeigt. Entscheidend wird daher sein, wie China auf diese epochale Herausforderung in Zukunft reagieren wird – mit zunehmender Automatisierung, Zuwanderung oder einer Kombination aus beidem? Eine Frage, die für sehr langfristig orientierte Anleger bereits Relevanz haben könnte.

Kurz- und mittelfristig dürfte für Marktteilnehmer aber vor allem die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft im Mittelpunkt stehen – auch mit Blick auf die europäischen Märkte. Zwar bedeutet ein dynamischeres China auch eine erhöhte Nachfrage nach zum Beispiel Öl, Gas oder Industriemetallen, was für Verbraucher und Unternehmen weltweit zusätzlichen Inflationsdruck erzeugen könnte. Allerdings führt eine offene chinesische Wirtschaft auch zu einer Belebung der Lieferketten und insgesamt zu einem aktiveren Welthandel. Vor allem für die stark exportorientierte europäische Wirtschaft sind das gute Nachrichten – fast ebenso gute wie für China selbst.

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Redaktionsschluss: 30. Januar 2023, 15 Uhr