blvdone / Adobe Stock

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Aktuell ist vor allem in den USA eine hitzige Diskussion über ein mögliches Ende des Zinszyklus entbrannt. Einige Marktteilnehmer rechnen bereits für dieses Jahr nicht nur mit einem Ende der Zinsanhebungen der US-Notenbank Fed, sondern sogar mit ersten Leitzinssenkungen. Sie argumentieren dabei mit zwar noch immer sehr hohen, aber tendenziell sinkenden Inflationsraten, einer abnehmenden Dynamik beim Anstieg der Erzeugerpreise und vor allem mit der Sorge vor einer bevorstehenden Rezession in den Vereinigten Staaten. Letztere scheint tatsächlich immer wahrscheinlicher zu werden. Nach Zahlen von Ende April legte das US-Wachstum in den ersten drei Monaten des Jahres annualisiert nur noch um 1,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zu – erwartet worden waren 2 Prozent. Dabei schwächte sich der Konsum der privaten Haushalte im Februar und März bereits ab. Der Abbau der Lagerhaltung der Unternehmen und sinkende Bauausgaben belasteten das Wachstum zusätzlich. Für einen weiteren Konjunkturabschwung könnte auch die bereits seit längerer Zeit invertierte US-Zinsstrukturkurve1 sprechen, ein in der Vergangenheit zumeist zuverlässiger Rezessionsindikator. Lagen die Kapitalmarktzinsen am kurzen Ende, also für US-Staatsanleihen mit einer Laufzeit bis etwa zwei Jahre, höher als die Zinsen am langen Ende, folgte seit 1955 mit einiger Verzögerung und nur einer Ausnahme immer eine Rezession. Derzeit ist die Kurve im Bereich zwischen zwei und fünf Jahren invertiert. Die große Unbekannte lautet, wie sich diese Invertierung auflösen könnte – womöglich durch sinkende Zinsen am kurzen Ende, ausgelöst durch Leitzinssenkungen der Fed?

Fed-Fokus liegt weiterhin auf Preisstabilität

Ich erwarte derzeit nicht, dass die Fed die Leitzinsen noch in diesem Jahr senken wird, sondern gehe von einer Anhebung im Mai um 25 Basispunkte aus. Das entspricht weitestgehend der aktuellen Einschätzung der Fed selbst, die zum Jahresende mit einem Leitzins von etwas über 5 Prozent rechnet (neue Prognosen werden für Juni erwartet).2 Zwar erwarten die US-Währungshüter nach den jüngsten Turbulenzen im Bankensektor und der daraus folgenden Verschlechterung der Finanzierungskonditionen mittlerweile auch eine „milde Rezession“ im Laufe des Jahres. Allerdings betrachten sie die hohe Inflation nach wie vor als das drängendere Problem. Vor allem deshalb, weil die Kerninflation, also die Teuerungsrate ohne Berücksichtigung der besonders schwankungsanfälligen Lebensmittel- und Energiepreise, anders als die Gesamtinflation im März gestiegen ist: von 5,5 Prozent auf 5,6 Prozent und damit sogar über das Niveau der Gesamtinflation hinaus. Eine konjunkturstimulierende Leitzinssenkung würde den Inflationszielen der Fed also entgegenstehen.

„Leitzinsen in den USA: Höhepunkt bald erreicht? Das bedeutet die mögliche Wende von der Zinswende für Anleger.“

Inflation, Konjunktur, Markt – die Suche nach der Balance

Die US-Notenbank befindet sich damit in einem Trilemma aus Inflationsbekämpfung, Konjunkturstimulierung und – verstärkt seit Beginn der Turbulenzen im US-Bankensektor – Finanzmarktstabilisierung. Eine „Bankenkrise“ zumindest scheint nach den jüngsten positiven Zahlen vieler US-Großbanken trotz anhaltender Risiken nicht ins Haus zu stehen. Sobald die Inflation signifikant gesunken sein sollte, dürfte sich die Fed daher der Konjunktur zuwenden.

Ich erwarte dies für kommendes Jahr, wenn die Preissteigerung mit rund 3 Prozent zwar noch immer deutlich über dem Fed-Ziel liegen, aber zumindest merklich nachgegeben haben könnte. Auf Jahressicht rechne ich für 2023 mit einem Wirtschaftswachstum in den USA von 0,7 Prozent und für 2024 von 1,1 Prozent. In Europa sieht sich die Geldpolitik grundsätzlich vor ähnlichen Herausforderungen wie in den USA – nur mit einer Verzögerung im Zyklus von etwa sechs Monaten. Insofern dürfte eine Leitzinspause erst im Spätsommer wahrscheinlich sein. Für die Eurozone erwarte ich für 2023 ein Wirtschaftswachstum von 0,8 Prozent und für 2024 von 1,1 Prozent.

Aktienmärkte hoffen auf eine Soft Landing

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Aktienmärkte? Sie scheinen einmal mehr davon abhängig, dass es den Notenbanken – allen voran der Fed – gelingt, die Balance zwischen einer Straffung der Finanzierungskonditionen zur Inflationsbekämpfung und der Vermeidung einer tiefen Rezession zu finden und im besten Falle eine „Soft Landing“ ohne Ausbremsen der Wirtschaft zu bewerkstelligen. Denn an der Konjunktur hängen die Unternehmensgewinne und der Aktienmarkt benötigt für steigende Kurse neue, positive Impulse. Ob dies gelingt, kann heute keiner sagen – die Risiken bleiben erheblich.

Anleger sollten Märkte intensiv beobachten

Bleibt die Frage, wie es langfristig weitergehen könnte, also auf welches Niveau die Leitzinsen nach Überwindung der Inflation in einem wieder expansiveren geldpolitischen Milieu sinken könnten? Denn dieser Zielbereich, also der „neutrale Zins“, bei dem die Konjunktur weder gedämpft noch stimuliert wird, hat konkrete Auswirkungen auf das Entwicklungspotenzial der Finanzmärkte. Er sinkt vor allem in den Industrieländern seit Jahren – unter anderem deshalb, weil auch das Potenzialwachstum, also das mögliche Wachstum einer Volkswirtschaft, ohne die Inflation zu befeuern, stetig abnimmt. Der Internationale Währungsfonds verortete den realen neutralen Zins in den Industrieländern jüngst bei unter 1 Prozent – wodurch ein Zinsniveau von vor der Corona-Pandemie in Zukunft wieder möglich erscheint. Das würde die langfristige Attraktivität von Aktien gegenüber Anleihen erhöhen. Allerdings: Auch bei diesem Thema gehen die Meinungen zum Teil deutlich auseinander. Einige Finanzmarktexperten sehen den neutralen Zins eher bei rund 2 Prozent, andere sogar bei 4 Prozent. Für Anleger bleibt daher auch langfristig nur eine Wahl: die Märkte intensiv beobachten, das Kapital breit streuen und das Portfolio aktiv managen.

1home.treasury.gov/resource-center/data-chart-center/interest-rates/TextView?type=daily_treasury_yield_curve&field_tdr_date_value_month=202304;
2federalreserve.gov/monetarypolicy/fomcpresconf20230322.htm

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Redaktionsschluss: 03. Mai 2023, 15 Uhr