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Ein Blick auf die konjunkturelle Entwicklung in den westlichen Industrieländern offenbart ein zuletzt selten gesehenes Bild. Während Deutschland 2023 einer leichten Rezession nicht entgehen und die Eurozone als Ganzes nur wenig zulegen dürfte, könnte Japans Wirtschaftsleistung mit 2,1 Prozent so stark wachsen wie kaum eine andere entwickelte Volkswirtschaft weltweit – einschließlich der USA. Allein im zweiten Quartal legte das Bruttoinlandsprodukt im Land der aufgehenden Sonne auf das Jahr hochgerechnet um 4,8 Prozent zu. Hierbei von einem Wirtschaftsboom zu sprechen, wäre zwar unangemessen. Aber die Zahlen verdeutlichen, dass es sich für Anleger durchaus lohnen könnte, ihren Investmentfokus gen Osten zu erweitern. Was aber sind die Gründe für die vergleichsweise hohe Wirtschaftsdynamik in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt? Eine zentrale Rolle spielt dabei meines Erachtens die japanische Notenbank. Denn anders als in allen anderen bedeutenden Industrieländern ist die Geldpolitik der Bank of Japan (BoJ) nach wie vor extrem expansiv und damit grundsätzlich wirtschaftsfreundlich. Während die Leitzinsen in den USA in den vergangenen Monaten auf bis zu 5,5 Prozent und in der Eurozone auf 4,5 Prozent gestiegen sind und die Finanzierungskonditionen für Unternehmen und Haushalte verschlechtert haben, liegen sie in Japan seit 2016 konstant bei minus 0,1 Prozent. Möglich ist dies, weil die Inflation in Japan bislang ebenfalls deutlich niedriger ausgefallen ist – unter anderem, weil das Land den nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 geplanten Atomausstieg nicht vollständig vollzogen, sondern zuletzt sogar rückgängig gemacht hat, und aufgrund der geringeren Abhängigkeit der japanischen Wirtschaft von russischen Gaslieferungen. Selbst in ihrer Hochphase am Anfang des Jahres hatte sie kaum die 4-Prozent-Marke überschritten und lag damit nur halb so hoch wie zur selben Zeit die Teuerungsrate in der Eurozone.

Als wesentlichen Treiber der japanischen Konjunkturerholung bezeichnete Notenbankchef Kazuo Ueda kürzlich neben einer moderaten Zunahme der Anlageinvestitionen vor allem den Konsum. Im September konnte Letzterer dank Nachholeffekten nach dem Auslaufen der Corona-Schutzmaßnahmen im Vergleich zum Vorjahresmonat um 7 Prozent zulegen. Vor allem die Freisetzung von „Corona-Ersparnissen“ und die Rückkehr chinesischer Touristen dürften zu diesem Anstieg beigetragen haben.

„Warum die japanische Wirtschaft jetzt vergleichsweise stark wächst – und welche Chancen sich daraus für Anleger ergeben.“

Nach dem Abebben dieser Sonderkonjunktur wird es mit Blick auf die kommenden Monate für Japan auch darauf ankommen, wie sich die Konjunktur in der Eurozone, den USA und China entwickelt. Denn die japanische Wirtschaft ist seit jeher stark exportorientiert und entsprechend abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in ihren Hauptabnehmerländern. Vor allem eine mögliche Erholung in China könnte ihre Wachstumsdynamik stützen. Japans Großunternehmen zumindest blicken so optimistisch in die nähere Zukunft wie lange nicht. Der vierteljährlich erscheinende Tankan-Geschäftsklimaindex der BoJ stieg im September sowohl für das Verarbeitende Gewerbe als auch für den Dienstleistungssektor um jeweils 4 Punkte auf 9 respektive 27 Punkte an – für den Dienstleistungssektor ist dies der höchste Wert seit November 1991.1

Die verbesserten Geschäftsaussichten und der Anstieg des Preisniveaus könnten auch für Bewegung bei den Löhnen sorgen. Diese hatten zuvor in einem mehr als zwei Jahrzehnte andauernden deflationären Umfeld kaum zugelegt. Steigende Löhne könnten den privaten Konsum und damit das Wirtschaftswachstum stützen. Einen steigenden Lohndruck dürfte auch die Bevölkerungsentwicklung im Land ausüben. Denn Japan vergreist noch schneller als andere Industrieländer, was den Konkurrenzkampf der Unternehmen um qualifizierte Fachkräfte erhöhen könnte. Insgesamt dürfte der Umgang mit dieser demografischen Hypothek langfristig ein entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Wirtschaft sein. Dabei geht man allerdings einen etwas anderen Weg als etwa in Deutschland. Denn statt auf eine aktive Immigration von Arbeitskräften setzt man in Japan bereits heute in großem Rahmen auf länger arbeitende Senioren und eine umfassende Automatisierung der Wirtschaft und Gesellschaft, zum Beispiel in der Bauindustrie, beim Thema Mobilität oder in der Pflege.

Eine andere strukturelle Herausforderung für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung Japans ist die bereits angesprochene Abhängigkeit vom Export. Die Beziehungen zu Japans wichtigstem Handelspartner China standen zuletzt politisch unter Druck. Vor diesem Hintergrund könnte für das Land ein stärkerer Fokus auf seinen Binnenmarkt durchaus sinnvoll sein. Beim Thema Staatsverschuldung sehe ich dagegen zumindest kein akutes Problem. Zwar weist Japan mit mehr als 200 Prozent die weltweit höchste Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf. Allerdings ist der Anteil der Auslandsverbindlichkeiten vergleichsweise niedrig und damit auch das offensichtliche Risiko einer Schuldenkrise. Wobei zu bedenken ist, dass es für die Schuldenpolitik Japans – etwa den Fakt, dass die BoJ rund 50 Prozent der japanischen Staatsanleihen hält – keinen Präzedenzfall gibt.

Was könnte diese Gemengelage aus positiven konjunkturellen Signalen und langfristigen strukturellen Herausforderungen für Anleger bedeuten? Meines Erachtens ist und bleibt Japan für Anleger mit seinen vielen Weltmarktführern zum Beispiel in den Bereichen Elektronik und Medizintechnik ein interessantes Investmentziel. Für die kommenden Monate rechne ich zunächst mit einem weiterhin niedrigen Zinsniveau und entsprechender konjunktureller Unterstützung. Am Aktienmarkt könnten die japanischen Unternehmen ihre traditionell sehr hohen Bargeldreserven zudem vermehrt für kursstützende Aktienrückkäufe oder für Dividendenzahlungen verwenden. Zumal die Restrukturierung des japanischen Unternehmenssektors voranzuschreiten scheint – nicht zuletzt, weil die Tokioter Börse den Druck auf bei ihr gelistete Firmen erhöht hat, unprofitable Tochtergesellschaften zu verkaufen. Bei den japanischen Unternehmen erwarte ich für dieses Jahr ein Gewinnwachstum im zweistelligen Prozentbereich.

Langfristig wiederum könnte Japan davon profitieren, dass Investoren das Land zunehmend als unkompliziertere Anlagealternative zu China in Betracht ziehen, um an der wirtschaftlichen Dynamik Asiens teilzuhaben. Sofern Japan seine langfristigen strukturellen Herausforderungen bewältigen kann, könnte das Bild einer moderat, aber stabil wachsenden japanischen Wirtschaft mehr als eine Momentaufnahme sein.

1 https://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/marktberichte/boerse-asien-japanische-maerkte-schliessen-im-minus-optimismus-waehrte-nur-kurz/29422790.html (abgerufen am 26.10.2023 um 11.00 Uhr).

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Redaktionsschluss: 30. Oktober 2023, 15 Uhr