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Trotz aller politischen Konflikte und Wirtschaftssanktionen: Kein anderes Land lieferte im vergangenen Jahr so viele Waren und Dienstleistungen in die USA wie China. Zwar ist andersherum das Reich der Mitte auch ein wichtiger Absatzmarkt für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Im Endeffekt ergab sich 2022 jedoch ein Handelsdefizit zulasten der USA von 366 Milliarden US-Dollar – deutlich mehr als mit jeder anderen Volkswirtschaft weltweit. Dass ausgerechnet China als größter geo- und wirtschaftspolitischer Konkurrent am Funktionieren der heimischen Wirtschaft einen so großen Anteil hat, lässt Washington zunehmend Anstrengungen unternehmen, diese Abhängigkeit zu verringern. Hinzu kommen unter anderem Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Verwendung chinesischer Technologie- oder Softwareprodukte, etwa in Bezug auf mögliche Spionage- und Manipulationsmöglichkeiten. Neben der Importseite überdenken die USA auch ihre Waren- und Dienstleistungsexporte nach China immer grundlegender. Ein vorrangiges Ziel dabei dürfte es sein, den weiteren Aufstieg Pekings in entscheidenden Zukunftsfeldern wie Quantencomputer, künstliche Intelligenz oder Halbleitertechnologie zu bremsen. Jüngste US-Restriktionen umfassen nun auch die Kontrolle von Auslandsinvestitionen in solch hochsensible Bereiche.

„Near- und Friendshoring: Was die US-Handelsüberlegungen für Ihr Depot bedeuten könnten.“

Das Herunterfahren der Handelsbeziehungen zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt hätte natürlich beträchtliche Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft. Denn es bedingt eine zumindest teilweise Neuordnung der globalen Handelsströme. Konkret müssten die USA für Waren und Dienstleistungen, die sie bisher aus China bezogen haben, zunehmend alternative Quellen etablieren – ein Prozess, der bereits voll im Gange ist: Nach fast 20 Jahren übertrafen beispielsweise die US-Importe aus Mexiko im vierten Quartal 2022 zum ersten Mal – mit einer Ausnahme während der Corona-Pandemie – wieder die aus China. Und während China 2022 seine Ausfuhren in die USA im Vergleich zu 2018 nicht einmal um 1 Prozent steigern konnte, legten die US-Einfuhren aus Vietnam um mehr als 125 Prozent, aus Taiwan um knapp 100 Prozent und aus Indien um fast 50 Prozent zu. Insgesamt sank der chinesische Anteil an asiatischen Importen günstiger Güter in dieser Zeit von rund zwei Dritteln auf nur noch die Hälfte.

Das „Nearshoring“, also die Verlagerung von US-Handelsaktivitäten in die unmittelbare regionale Umgebung wie im Falle von Mexiko, wie auch die Konzentration auf politisch und gesellschaftlich eher wohlgesinnte Staaten wie Vietnam oder Indien, das sogenannte Friendshoring, haben aber noch einen weiteren Effekt auf die betreffenden Länder: Sie erhöhen nicht nur deren Handelsaktivitäten mit den USA, sondern zumindest mittelfristig auch deren Abhängigkeit von China, allen voran von benötigten Zwischenprodukten. In den ASEAN-Staaten (Association of Southeast Asian Nations, dt.: Verband Südostasiatischer Nationen) stiegen die Einfuhren aus China im ersten Halbjahr 2023 um 80 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2018 an. In Mexiko wiederum stammen mittlerweile rund 40 Prozent der Direktinvestitionen im Automobilsektor aus China. Entsprechend zurückhaltend sind einige Länder beim Near- und Friendshoring mit den USA, würden sie bei einer weiteren Eskalation zwischen den beiden Weltmächten doch wirtschaftlich beträchtlich unter Druck geraten. Laut einer Studie des Internationalen Währungsfonds beträfe dies vor allem die Länder in Südostasien.

Aus Anlegersicht interessant könnte mit Blick auf die Neuordnung der globalen Lieferketten daher als Depotbeimischung ein breites Schwellenländerinvestment mit Ländern wie Indien oder Mexiko sein. Indien, das wirtschaftlich dynamisch wachsende und mittlerweile bevölkerungsreichste Land der Erde, ist zwar wie China Mitglied der BRICS-Gruppe, hat aber sonst vergleichsweise wenig Gemeinsamkeiten mit dem Reich der Mitte – politisch wie wirtschaftlich. Gleichzeitig bietet Indien bei einem niedrigen Lohnniveau langfristig ein schier unerschöpfliches Reservoir an jungen und zum Teil sehr gut ausgebildeten Arbeitskräften.

Mexiko wiederum dürfte überproportional stark von seinem direkten Zugang zu den USA profitieren, sowohl was seine geografische Nachbarschaft als auch die zwischen den beiden Volkswirtschaften bestehenden Handelsabkommen betrifft. Seit jeher aufgrund der relativ geringen Lohnkosten ein beliebter Standort für US-Unternehmen, könnte das mittelamerikanische Land durch eine Verschiebung der Handelsströme daher einen zusätzlichen wirtschaftlichen Schub erhalten. Die Gewinnerwartungen für den mexikanischen Aktienmarkt wurden von der Analystengemeinde zwar zuletzt nach unten korrigiert, liegen mit 7,5 Prozent für die kommenden zwölf Monate aber immer noch etwa doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Region.

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Redaktionsschluss: 04. September 2023, 15 Uhr