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Es war ein Arbeitskampf von historischem Ausmaß: In den USA wurden im September und Oktober erstmals Werke der drei größten US-Automobilhersteller gleichzeitig bestreikt. Die mächtige Gewerkschaft United Auto Workers forderte für ihre Mitglieder Lohnsteigerungen im mittleren zweistelligen Prozentbereich und eine Verbesserung der Sozialleistungen. Insgesamt hat die Streikbereitschaft in den Vereinigten Staaten – und auch anderswo – zuletzt stark zugenommen. Im August stieg die Zahl der streikbedingten Ausfalltage auf den höchsten Wert seit dem Jahr 2000.

Aus verteilungspolitischer Sicht erscheint der Kampf um höhere Löhne durchaus begrüßenswert. Denn das Erwerbseinkommen ist die wichtigste Einnahmequelle der meisten Bürger und steigende Einkommen führen unter ansonsten gleichbleibenden Bedingungen in der Regel zu einer höheren Nachfrage und somit wirtschaftlichem Wachstum. Allerdings haben die Löhne auch unmittelbare Auswirkungen auf die Profitabilität der Unternehmen. Während in den USA und Europa der Lohnanteil am Gesamteinkommen der Volkswirtschaft seit dem Jahr 2000 entweder sank oder stagnierte, konnten die börsennotierten Unternehmen ihren Anteil an der Wertschöpfung ausweiten.

China verliert Status als „Werkbank der Welt“

Doch die Zeiten ändern sich. Zum einen wird die Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit und damit verbunden die Lohnforderungsmacht der Beschäftigten in den Industrieländern zunehmend durch die demografische Entwicklung bestimmt – Stichwort Fachkräftemangel. Zum anderen wandelt sich die internationale Arbeitsteilung: China hat längst den Pfad weg von einem Niedriglohnland und hin zu einer Innovationswirtschaft eingeschlagen. Damit verliert das Reich der Mitte allmählich seinen Status als „Werkbank der Welt“, den es seit seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 immer weiter ausgebaut hatte. Hinzu kommt, dass westliche Unternehmen aufgrund coronabedingter Lieferkettenprobleme und zunehmender geopolitischer Risiken, etwa bezüglich des schwelenden Konflikts zwischen China und Taiwan, ihre Handelsbeziehungen und Produktionsstandorte in China auf den Prüfstand stellen – Stichwort Derisking. Global agierende Unternehmen müssen dadurch zunehmend auf diesen riesigen Arbeitsmarkt mit vergleichsweise gut qualifizierten und gering bezahlten Arbeitskräften verzichten – was die Verhandlungspositionen der Beschäftigten in den Industrieländern verbessert. Zumal kein anderes Land weltweit bezüglich qualifizierter Arbeitskräfte und politischer Stabilität die Rolle Chinas vollständig übernehmen kann.

„Derisking-Tendenzen und steigender Lohndruck verleihen Automatisierung Rückenwind – und Anlegern Investmentchancen.“

Steigende Lohnkosten setzen Unternehmen unter Druck

Insbesondere jene Unternehmen, die in der Vergangenheit von den günstigen Produktionsbedingungen in China profitiert haben, könnten in zweierlei Hinsicht unter Druck geraten: zum einen durch den teilweisen Wegfall Chinas als billiger Produktionsstandort, zum anderen durch höhere Lohnforderungen in ihren Heimatländern. Konnte zwischen 1948 und 1979 der durchschnittliche Stundenlohn eines Arbeiters in den USA noch um 108 Prozent zulegen, stieg er in den folgenden durch die rasante Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung geprägten 40 Jahren nur noch um insgesamt 14 Prozent. Gelingt es den Unternehmen nicht, die möglicherweise nun wieder deutlich steigenden Lohnkosten über höhere Preise an ihre Kunden weiterzugeben, könnte sich das empfindlich auf die Margen auswirken.

Kumulierte Entwicklung der effektiven Produktivität im Vergleich zum Lohnwachstum in den USA. Indexiert: 1979 = 100

Vor diesem Hintergrund dürften sich die Automatisierungsbestrebungen in den Unternehmen weltweit beschleunigen. Das betrifft sowohl die Industrie, die in Zukunft mehr denn je auf den „Kollegen Roboter“ setzen könnte, als auch den Dienstleistungssektor, der fehlende Fachkräfte durch KI-Lösungen substituieren könnte. Davon langfristig profitieren sollten nicht nur die sich wandelnden Unternehmen selbst, sondern vor allem die Anbieter von relevanten Produkten aus den Bereichen Automatisierung und Tech. Entsprechende Erwartungen dürften zumindest teilweise die Börsenrally bei KI-Unternehmen zu Beginn dieses Jahres befeuert haben. Entsprechend risikobereite langfristig orientierte Anleger könnten Rücksetzer in diesem Bereich, wie es sie jüngst aufgrund der gestiegenen Zinsen gab, für einen Einstieg nutzen. Dabei sollte auch die Entwicklung des US-Dollar im Blick behalten werden, denn viele Unternehmen aus diesem Segment sind an den US-Börsen notiert. Sollte der Greenback im Zuge einer möglichen kurzen Rezession und einer damit einhergehenden erwarteten Leitzinssenkung der US-Notenbank gegenüber dem Euro abwerten, könnte das ebenfalls für ein Investment in KI-Titel und verwandte Bereiche sprechen.

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Redaktionsschluss: 30. Oktober 2023, 15 Uhr