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Die Angst geht um in Deutschland. Die Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, vor zunehmenden Natur- und Umweltkatastrophen und vor politischen Fehlentscheidungen und Demokratieverlust. Tatsächlich sind die Befürchtungen in vielerlei Hinsicht nicht unbegründet. Die konjunkturelle Entwicklung lahmt, Nachrichten aus heimischen Überflutungs- oder Waldbrandgebieten häufen sich und mit zunehmender Kritik an den etablierten Parteien erstarken die politischen Ränder. Die Herausforderungen sind unstrittig, doch sie betreffen nicht nur Deutschland, sondern viele Volkswirtschaften weltweit. Das macht sie nicht weniger drängend, doch lässt es die Vehemenz der deutschen Furcht in einem anderen Licht erscheinen. Ausländische Beobachter sprechen in diesem Zusammenhang oft von der „German Angst“ – einer vermeintlich typisch deutschen Zögerlichkeit, geboren aus Zukunftssorgen und einem hohen Bedürfnis nach Sicherheit.

Dabei braucht es gerade jetzt kein Zögern, sondern Handeln. Es braucht vereinfacht gesagt mehr Optimismus und Mut, die Herausforderungen selbstbewusst anzugehen. Dabei sollte das viele Positive, das unser Land auch ausmacht, nicht aus dem Blick verloren werden, damit wir nicht als selbsterfüllende Prophezeiung in einen fortwährenden Abwärtsstrudel geraten.

„Starke Basis: Warum Deutschland langfristig wirtschaftlich erfolgreich sein kann – und was dazu noch fehlt.“

Ein Argument gegen ein vermeintlich abstiegsgefährdetes Deutschland, das mir im Ausland immer wieder entgegengebracht wird, ist unsere – bei allen aktuellen Schwierigkeiten – politische und wirtschaftliche Stabilität. Die Bundesrepublik ist eine funktionierende rechtsstaatliche Demokratie, fest eingebunden in die internationale Gemeinschaft und mit einer widerstandsfähigen Zivilgesellschaft. Laut der UNESCO verfügen wir über ein „besonders dichtes Netz öffentlich geförderter Kultureinrichtungen“ und ein entsprechend breites, unabhängiges und bezahlbares Kulturleben.1

Darüber hinaus ist Deutschland nach wie vor eine Volkswirtschaft von höchster Bonität – ein Attribut, das etwa den USA zuletzt aberkannt wurde. Die Staatsverschuldungsquote auf Basis des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts ist in Deutschland zum Teil deutlich niedriger als in den meisten anderen großen Industrie- und Schwellenländern. Das ist nicht nur ein schmückender Fakt, sondern bietet auch die Möglichkeit, konsequent externe Schocks abfedern zu können, wie es sich zuletzt während der Corona-Pandemie oder der Energiekrise im Nachgang des russischen Angriffs auf die Ukraine gezeigt hat.

Eng mit der wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands verknüpft ist ein weiterer „Mut-Macher“: unsere weltweit geschätzte Innovationskraft und Ingenieurskunst. Auch wenn die Mehrzahl der Nobelpreisträger mittlerweile aus anderen Ländern kommt – oder zumindest dort forscht – und der Wettbewerb etwa im Patentbereich immer härter wird, sind deutsche Unternehmen weiterhin sehr erfolgreich darin, internationale Kunden von ihren Produkten zu überzeugen. Die Exportstärke unseres Landes ist vor allem Ausdruck eines leistungsfähigen Mittelstands, also kleinerer und mittlerer Unternehmen, die in vielen Bereichen als geheime Weltmarktführer, sogenannte Hidden Champions, sehr flexibel und innovationsstark auf globale Trends reagieren oder diese sogar initiieren.

Das gelingt seit vielen Jahrzehnten nur deshalb, weil das deutsche Bildungssystem entsprechend hoch qualifizierte Arbeitskräfte hervorbringt, und dies nicht nur über ein Studium an seinen Universitäten und Fachhochschulen und nicht nur im Bereich der viel gepriesenen deutschen Grundlagenforschung. Vor allem das System der dualen Ausbildung ist ein sehr erfolgreiches und international renommiertes, ja geradezu bewundertes Instrument, junge Menschen nachhaltig als leistungsfähige Mitarbeiter in die Praxis von Betrieben zu integrieren – was sich in einer im internationalen Vergleich sehr niedrigen Jugendarbeitslosigkeit niederschlägt. Dieses hohe Bildungsniveau wird auch von zukunftsweisenden Technologieunternehmen weltweit als Standortvorteil gesehen. Jüngste Großinvestitionen von US-amerikanischen und taiwanesischen Halbleiterfirmen im Saarland, in Sachsen-Anhalt und Sachsen, der Aufbau einer US-Elektroautoproduktion in Brandenburg und der Ausbau von Forschungsstandorten großer Tech-Konzerne in Bayern sind Ausdruck dessen. Für die betreffenden Regionen sind das langfristig gute Nachrichten, zumal die Werke Ansiedlungen von zum Beispiel Zulieferern und den Aufbau einer modernen Infrastruktur nach sich ziehen werden.

Wie bereits erwähnt, sind die Herausforderungen, denen sich Deutschland gegenübersieht, erheblich. Um einen wirtschaftlichen Abstieg zu verhindern, braucht es eine langfristige, klar kommunizierte politische Agenda, die wesentliche Probleme identifiziert und entsprechende Ziele in den Fokus nimmt. Dazu gehören eine höhere Energiesicherheit, ein umfangreicher Bürokratieabbau, modernere Infrastrukturen und ein Steuersystem, das Innovationen, Investitionen und das Eingehen unternehmerischer Risiken zumindest nicht erschwert. Das Wachstumschancengesetz zur Verbesserung der Liquiditätssituation von Unternehmen oder das Zukunftsfinanzierungsgesetz für Start-ups gehen in die richtige Richtung. Ebenso das viel beschworene neue „Deutschland-Tempo“, das beim Aufbau einer deutschen LNG-Infrastruktur schon zu erkennen ist.

Dies alles sind ermutigende Signale. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und in der Überzeugung, Deutschland habe den Anschluss an eine sich schnell verändernde Welt in den Jahren zuvor verschlafen, schrieb das britische Magazin The Economist im August vergangenen Jahres von einer „seltenen Möglichkeit in einer Demokratie, einen Konsens über die Notwendigkeit eines umfassenden Wandels in der Wirtschaft und beim Thema Sicherheit“ zu erzielen.2 Diese vielleicht historische Chance für Deutschland gilt es zu nutzen und den notwendigen Wandel voranzutreiben – im Bewusstsein, dass nicht alle Schritte bis ins kleinste Detail vorab abgesichert und geprüft sein müssen.

Mag man nun vor allem mit Sorge oder Hoffnung auf Deutschland blicken – „German Angst“ ist sicher fehl am Platz. Denn noch haben wir unsere Zukunft selbst in der Hand und starten von einer starken Basis. Es gilt jetzt, den Mut für notwendige politische Reformen zu finden und sie gegen mögliche Widerstände zu verteidigen. Dann steht einem langfristigen Aufschwung in Deutschland kaum etwas im Wege.

1 Unesco: Kulturelle Vielfalt in Deutschland
2 The Economist: Thanks to Vladimir Putin, Germany has woken up

(abgerufen jeweils am 01.09.2023 um 10.00 Uhr).

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Redaktionsschluss: 04. September 2023, 15 Uhr